Hintergründe

Im Wandel: Die Liebe in der Romantik

Liebe in der Romantik Epoche

Um zu verstehen, welche Rolle die Liebe im Märchen spielt und warum sie so dargestellt wird, wie sie in dieser Textsorte eben dargestellt wird, ist wieder einmal der zeitgeschichtliche Kontext von Bedeutung. Und das bedeutet: Es geht erneut zurück in die Epoche der Romantik.

Zeitgeschichte: Liebe in der Romantik

Die Literaturepoche der Romantik ist uns bereits mehrfach begegnet: In Folge 21 „Zwei Brüder, ein Irrglaube und jede Menge Romantik“  haben wir euch das erste Mal mitgenommen in die Zeit, die die Brüder Grimm und damit auch die Kinder- und Hausmärchen maßgeblich geprägt hat. Wie stark die Einflüsse dieser Epoche auf die Textsorte Märchen sind, haben wir erneut in unserer Gruselfolge „Angstlust“ (Folge 51) gesehen, als es um die Einflüsse der Schwarzen Romantik auf die unheimlichen Elemente im Märchen und die Subkategorie der Gruselmärchen ging. Und auch beim Thema „Liebe im Märchen„, um das sich unsere Folge 61 „Love is everywhere“ dreht, kommen wir an dieser Epoche nicht vorbei. Denn sie hat das Verständnis von Liebe zu Zeiten der Grimms entscheidend beeinflusst und verändert.

Was Romantik heute bedeutet

Grundsätzlich bezeichnet der Begriff „Romantik“ eine starke Gefühlswirkung oder einen sentimentalen Zustand des Gefühlsreichtums. Wir verbinden damit meist Assoziationen wie Sonnenuntergang, Kerzenschein, Mondlicht und Rosenblätter, die schnell auch ins Ktischige oder sogar Alberne abdriften können. Romantiker und Romantikerinnen gelten oft als Tagträumer*innen, als Sensibelchen oder als unrealistische Fantast*innen.

Die Literaturerpoche der Romantik hat mit unseren heutigen Vorstellungen von Romantik nicht viel gemein. Nichtsdestotrotz hat die Epoche, in deren Geist die Brüder Grimm die Märchen sammelten, unser heutiges Verständnis von Romantik und damit auch von Liebe beeinflusst.

Was die Epochenbezeichnung bedeutet

Schon die Bezeichnung „Romantik“ hat eigentlich gar nichts Romantisches an sich. Der Begriff leitet sich von „in lingua romana“, also von der romanischen Sprache ab. In dieser Begrifflichkeit zeigt sich bereits das Denken der Vertreter*innen dieser Epoche. Die romanischen Sprachen bildeten damals den Gegensatz zur lateinischen Sprache, auch wenn die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen hervorgegangen sind.

Bis ins 19. Jahrhunder hinein war Latein die Sprache der Kunst, was bedeutet, dass auch die antike Kultur und ihre Werte vorherrschend waren. Besonders deutlich zeigt sich das an der Epoche der Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik

Die Weimarer Klassik war die große Zeit von Goethe und Schiller und war von 1786 bis 1832 um eine Renaissance der Antike bemüht. Sie erklärte die Kunst der alten Griechen und Römer zum Ideal und begriff die Antike als Zeit der Harmonie und Ausgewogenheit. Die Literaten und Literatinnen der Weimarer Klassik strebten nach Humanität und Vollkommenheit und wollten ein Gleichgewicht zwischen Verstand und Gefühlt herstellen, also zwischen den Idealen zweier anderer Epochen: der Aufklärung und des Sturm und Drang. Die vernunftbetonte Aufklärung (1720-1800) setzte auf Vernunft und Rationalität, der Sturm und Drang (1765-1790) als Protestbewegung lehnte sich gegen die Ideale der Aufklärung auf und betonte Gefühl und Fantasie.

Die Romantik wiederum kritisierte als Gegenbewegung zur Klassik die Hinwendung zur Antike und wandte sich somit auch von den klassischen Formen, den antiken Idealen und eben auch der lateinischen Sprache ab. Ihr ging es darum, die eigene Kultur und Geschichte zu erschließen und aus diesem Grund verfassten die Vertreter*innen dieser Epoche ihre Werke in der Sprache des eigenen Volkes, eben „in lingua romana“.

Die Minne

Im Zuge dessen erlebte auch das bis dato als düster und rückständig abgestempelte Mittelalter einen regelrechten Hype und mit ihm ein Phänomen, das auch für das Thema Liebe von Bedeutung ist: die Minne. „Minne“ ist das mittelhochdeutsche Wort für Liebe und bezeichnete ursprünglich die positive, mentale und emotionale Hinwendung des Menschen zu Gott, aber auch die Beziehung von Menschen untereinander in sozialer, karritativer, freundschaftlicher und erotischer Hinsicht.

Im Hochmittelalter hat sich der Schwerpunkt vor allem auf die emotional-erotische Beziehung zwichen Mann und Frau verlagert, die dann zur Liebe des Dichters bzw. Sängers zu einer weiblichen Person höheren Standes stilisiert wurde, die niemals Erfüllung finden konnte, schließlich waren die Standesgrenzen im Mittelalter nahezu unüberwindbar.

Hohe und niedere Minne

Unterschieden werden kann zwischen hoher und niederer Minne. In der hohen Minne ging es nicht mehr um die Vielzahl der Eroberungen, sondern um die Hingabe an die reine Frau, die Mann durch eine Eroberung nicht erniedrigen durfte, sondern die immer unerreichbar bleiben musste. Aufgabe der adeligen Frau war es, den Liebsten zurückzuweisen, sodass für die hohe Minne das Verzichtverhalten des Mannes und die Unerreichbarkeit der Frau charakteristisch sind.

Die niedere Minne richtete sich an nicht-adelige Frauen, mit denen Mann dann immerhin eine Nacht verbringen durfte.

Liebe im Mittelater: kein Platz für Gefühle

Was sich am mittelalterlichen Phänomen der Minne zeigt, ist, dass Liebe im Mittelalter nur selten ausgelebt werden konnte. Zu dieser Zeit spielten, wie schon in der Antike, Liebe und Leidenschaft keine Rolle, insbesondere nicht bei der Eheschließung. Der Grund dafür liegt in der Gesellschaftsstruktur: Der Großteil der Bevölkerung waren Bauern, die als Leibeigene entsprechend den Wünschen der Grundherren zwangsverheiratet wurden. Auch im Adel konnte sich niemand seinen Partner oder seine Partnerin aussuchen. Entscheidende Faktoren für eine Eheschließung waren hier Geld, Macht und politische Interessen. Liebe als individuelles Gefühl spielte dabei, wie Individualität im Allgemeinen, keine Rolle, und große, leidenschaftliche Gefühle galten im Mittelalter als Tollheit oder Wahn, die es medizinisch zu behandeln galt, da sie sich anders nicht bändigen ließen.

Einen weiteren wichtigen Einfluss auf die Bedeutung der Liebe im Mittelalter hatte der strenge Glaube dieser Zeit. Nach christlichem Verständnis war es in erster Linie Gott, dem die einzige Liebe eines Menschen gelten sollte. Große Gefühle und insbesondere Sexualität gefährdeten diese Liebe.

Liebe in der Romantik: mehr Individualität

Trotz ihrer Hinwendung zum Mittelalter steht die Romantik genau für das, wofür es im Mittelalter noch keinen Platz gab: für eine starke Betonung des Individuums und der eigenen Gefühlswelt. In Rückbesinnung auf das Mittelalter entdeckte man auch den Minnegesang wieder, der das Bild von Liebe zu Beginn der Romantik noch mitprägte, ehe es sich dann grundlegend veränderte. Das zeigt sich vor allem am Verständnis von Ehe.

Bis dato war die Ehe nicht mehr als eine Vertragsgemeinschaft mit dem Ziel der Zeugung von Kindern, der materiellen Absicherung und moralischer Kriterien wie Vernunft und Tugend. Liebe und Zuneigung konnten entstehen, ob sie das aber auch tatsächlich taten, war unbedeutend. Beides holte man sich außerhalb der Ehe wobei dieses Privileg natürlich den Männern vorbehalten war.

Die Idee einer romantischen Liebe

In der Romantik entstand dann die Idee einer romantischen Liebe, die das oberste Kriterium bei der Wahl des Ehepartners oder der Ehepartnerin sein sollte. Daraus ergab sich die Forderung nach einer Liebesheirat, die auf prinzipieller Gleichheit der Gatten, Liebe innerhalb der Familie sowie wechselseitiger Achtung basieren sollte. Ganz im Geiste der epochentypischen Wertvorstellungen wurden rationale Grundstrukturen wie finanzielle Absicherung und die Zeugung von Nachkommen durch Gefühle ersetzt. Es entstand die Vorstellung einer exklusiven Zweierbeziehung, in der sich die Liebenden von der Welt abgrenzen und nur füreinander existieren. Sie verschmelzen zu einer Einheit, in der Individualität, Sexualität und Einzigartigkeit wichtig sind, nicht aber gesellschaftliche Normen.

Der Einfluss Schlegels

Bei der Entwicklung dieses neuen Liebesdiskurses von entscheidender Bedeutung war der Romantiker Friedrich Schlegel mit seinem Roman „Lucinde“. Er erzählt von der leidenschaftlichen Liebe zwischen Lucinde und Julius und war damals ein Skandal, weil er unter anderem die arrangierte Ehe kritisiert.

Liebe in der Romantik: Merkmale

Im Konzept der Liebesheirat offenbart sich noch einmal alles, wofür die Literaturepoche der Romantik steht: Betonung von Gefühlen, Individualität, Weltflucht und die Ablehnung des Rationalen. Das zeigt sich auch in den Merkmalen, die die Romantiker und Romantikerinnen für die romantische Liebe festlegten:

  • Einheit von Sexualität und Liebe
  • Liebe als Voraussetzung für die Eheschließung
  • Liebe und Ehe
  • Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung
  • Dauerhaftigkeit der Liebe
  • Verbindung zweier einzigartiger Individuen
  • Entwertung der Umwelt.

Grundlage dieses Modells sind die Gefühle und das Glück beider Liebenden.

Die Liebesheirat wird zum neuen Ideal

Bemerkenswert an dieser Idee ist, dass an die Stelle der patriachalen Dominanz ein paritätisch-liberales Geschlechterbild tritt. Dessen Theorie galt es nun in der Realität umzusetzen. Erste Auswirkungen des romantischen Beziehungsideals zeigten sich in der Liebesheirat, die sich ab dem 19. Jahrhundert immer mehr durchsetzte.

Trägerschaft der neuen Liebesheirat war vor allem das Bürgertum. Alte Traditionen kehrten sich um und nun galt die Ehe ohne Liebe als unmoralisch. Damit distanzierte sich das Bürgertum auch vom Adel und die auf sachlichen Kriterien fußende Vernunftsehe wurde abgelöst. Dennoch kam es nicht zu einem vollständigen Bruch mit den alten Vorstellungen, denn stürmisch und kopflos durfte die Liebe auch nicht sein. Vielmehr sprach man sich für eine „vernünftige Liebe“ aus: Liebe solle das Motiv für eine Ehe sein, aber materielle Vor- und Nachteile sollten dennoch abgewogen werden. Eine standesgemäße Heirat galt nach wie vor als angemessene Lebensgrundlage.

Damit lag die bürgerliche Ehe auf der Schwelle zwischen traditioneller Vernunftehe und der modernen Liebesehe aus der Diskursebene. Sie war das Ergebnis davon, eine Theorie in der Praxis umsetzbar zu machen. Mit ihr kam das Idealbild von Liebe also in der Realität an.

Die Zwänge der Zeit

So sehr es sich bei der Liebesheirat auch um eine große gesellschaftliche Veränderung handelte, war die Umsetzung dennoch den Zwängen der Zeit unterworfen. Denn ein Problem, das auch die Romantik nicht lösen konnte und wahrscheinlich auch nicht wollte, war die Rolle der Frau. Da ihr die finanzielle Eigenständigkeit verwehrt blieb, war sie weiter angewiesen auf eine Eheschließung, die ihre Existenz sicherte. Erst mit ihrer Emanzipation näherte sich die Wirklichkeit dem romantischen Ideal der Liebesheirat weiter an, auch wenn die Ehe an sich dadurch an Bedeutung verlor und inzwischen nicht nur deutlich vielfältiger geworden ist, sondern als solches auch immer wieder hinterfragt und kritisiert wird.

Die Liebe in der Romantik: ein romantisches Erbe

Nichtsdestotrotz gilt die Ehe als das Ideal einer Zweierbeziehung – diese Vorstellung hat sich in der Romantik entwickelt und bis heute erhalten. Liebe ist für uns keine rationale Abwägung über eine angemessene Existenzgrundlage, sondern für viele die Suche nach dem Lebenssinn. Dieses Verständnis geht auf die Epoche der Romantik zurück. In diesem Sinne hat die Romantik, die eigentlich nichts mit unserem Verständnis von Romantik zu tun hat, doch entscheidend zu unserer heutigen Vorstellung von Liebe beigetragen.

Als Literaturepoche hat sie zudem natürlich auch die Literatur ihrer Zeit geprägt. Und da die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Grimms in diese Zeit fällt, finden wir in ihnen jene romantische Vorstellung von Liebe, unter der wir heute die „Liebe wie im Märchen“ verstehen. Märchen haben somit das romantische Erbe bewahrt und in unsere Zeit getragen – auch wenn die Liebe im Märchen durchaus vielschichtiger ist, als es auf den ersten Blick scheint.

➛ Übrigens: Mehr zum Thema „Liebe im Märchen“ könnt ihr ausführlich in unserer Folge 61 „Love is everywhere“ nachhören.