Unsere Märchenkunde “Angstlust” führt uns zurück in eine Epoche, die wir bereits in einer früheren Folge ausführlich betrachtet haben: die Romantik. Eine Unterströmung dieser Literaturepoche ist die Schwarze Romantik. Sie hat maßgeblich das beeinflusst, was wir noch heute als gruselig empfinden. Viele ihrer schaurigen Elemente begegnen uns auch in Gruselmärchen.
Schaurig-schön: die Schwarze Romantik
Friedhöfe, Ruinen, dunkle Wälder, Nebellandschaften – dass die Literaturepoche der Romantik einen Hang zum Unheimlichen und Mystischen hat, haben wir schon in Folge 21 “Zwei Brüder, ein Irrglaube und jede Menge Romantik” thematisiert. Wenn ihr euch erinnert: Die Romantik entwickelte sich ab 1798 als Gegenbewegung zur vernunftbetonten Aufklärung und beschäftigte sich mit Themen wie Weltflucht, Hinwendung zur Natur, Betonung des Individuums und der Sagenwelt des Mittelalters. Subjektive Gefühle standen im Fokus, typische Motive waren die Blaue Blume sowie das Nacht- und Spiegelmotiv.
In den Märchen spiegelt sich die Gedankenwelt dieser Epoche deutlich wider: Märchen sind Flucht- und Fantasiewelten, sie entführen uns in fantasievolle Traumwelten, die einen Kontrast zu einer immer technischer werdenden Welt bilden. Märchen romantisieren das Gute und Schöne und die Natur spielt in ihnen eine wichtige Rolle. Märchen beinhalten aber auch unheimliche Elemente – und genau die schauen wir uns in unserer Märchenkunde “Angstlust” genauer an.
Die Faszination des Unheimlichen
Als Spiegel ihrer Epoche sind Märchen nicht nur von der Romantik beeinflusst, sondern auch von einer ihrer Unterströmungen, der Schwarzen Romantik. Die Schwarze Romantik wird auch als Schauerromantik, Dunkle Romantik oder Negative Romantik bezeichnet und fällt in die Zeit der Spätromantik von 1816 bis 1848. Im Sachwörterbuch der Literatur wird sie als „irrationale Tendenz der Romantik zum Unheimlich-Gespenstischen, Phantastisch-Abseitigen und Dämonisch-Grotesken“ definiert, eine eindeutige Abgrenzung zur Hauptströmung der Romantik ist aber nicht möglich. Dennoch ist sie extremer als die Romantik. Neben dem Unheimlichen und Mystischen gehören die Abgründe der menschlichen Psyche, Wahnsinn, Angst, Gewalt und Tod sowie die Faszination des Bösen zu ihren Themen.
Die Entwicklung der Schwarzen Romantik
Die Auslöser zur Entstehung der Schwarzen Romantik liegen, wie für die Romantik im Allgemeinen, in der Aufklärung (1720–1800). Anfangs als Aufbruch in ein neues Zeitalter gefeiert, konnte sie ihre Versprechungen nicht halten: Auf die Französische Revolution im Jahr 1889 folgten unter dem Deckmantel des zivilisatorischen Fortschritts Terror und Leid. Die Romantik reagierte darauf mit dem Rückzug in idealisierte und vom Mittelalter inspirierte Fantasie- und Traumwelten. Die Schwarze Romantik verarbeitete den Schrecken der Realität durch eine Romantisierung des Unheimlichen und Grausigen.
Der Einfluss der Schauerliteratur
Generell entdeckten die Menschen zu dieser Zeit die Faszination am Gruseligen. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in England mit der Gothic Novel die sogenannte Schauerliteratur als neues Genre der Phantastik heraus. Sie nahm das durch die rationale Aufklärung verdrängte Unheimliche und Unkonventionelle wieder auf und schuf eine Ästhetik des Unheimlichen, die bis heute unsere Vorstellung von Grusel und Angst prägt.
Begründer dieses neuen Genres der Gothic Novel ist “Das Schloss von Otranto” von Horace Walpole aus dem Jahr 1764. Tod, Verfall und Dämonisches, der Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche und die sprachliche Ausgestaltung von Angst und Grusel: Die Schauerliteratur entwickelte sich in den Folgejahren immer weiter und wurde zur dominierenden Literaturform des frühen 19. Jahrhunderts – natürlich auch, weil sie die Sensationslust ihrer Leserschaft befriedigte. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ging aus ihr dann die moderne Horrorliteratur hervor, die bis heute die Grenzen dessen auslotet, was Menschen zu tun, zu erleben und auszuhalten in der Lage sind.
Themen der Schwarzen Romantik
Die Schwarze Romantik wendet sich bewusst von der Vernunft ab und legt ihren Fokus auf die dunkle Seite des menschlichen Daseins, was ihren Werken einen melancholischen, düsteren und makaberen sowie gruseligen Charakter verleiht.
Themen der Schwarzen Romantik sind:
- die Psyche des Menschen
- die Abgründe der menschlichen Seele
- Ängste, Alpträume und Wahnsinn
- Unerklärliches, Dämonisches und Übernatürliches
- das Morbide, Schaurige und Unheimliche
- die Faszination für das Böse
Diese Themen und ihre Darstellung prägen unser Empfinden für Gruseliges bis heute und werden noch immer in zahlreichen Horrorfilmen verarbeitet. Sie spielen häufig in Spukschlössern oder anderen verlassenen Orten, handeln von Geistern und Untoten und ereignen sich meist nachts, wo die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen. Damit einhergehend greifen wir noch heute auf die in der Gruselliteratur geschaffene Ästhetik zurück.
Die dunkle Romantik der Gruselmärchen
Gruselmärchen greifen Elemente der Schauerliteratur und damit der von ihr inspirierten Schwarzen Romantik auf:
- Sie spielen an charakteristischen Orten wie in einem dunklen Wald oder in einer düsteren Nacht.
- Uns begegnen Geister, Untote und andere übernatürliche Gestalten.
- Die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen.
Das könnt ihr auch in unserer Folge 51 “Angstlust” hören. Darin stellen wir euch mit “Sünde und Gnade”, “Die Totenmesse”, “Der Schwarze Graf” und “Der Finger” vier Gruselmärchen vor und sprechen auch sonst ausführlich über Gruselmärchen, die Schwarze Romantik und den Spaß am Gruseln.
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