Hintergründe

Die Romantik: Märchen als Spiegel einer Epoche

alter Friedhof

Wir betonen es ja immer wieder: Betrachten wir Märchen, dürfen wir nicht die historischen Hintergründe außer Acht lassen. In unserer aktuellen Folge „Zwei Brüder, ein Irrglaube und jede Menge Romantik“ beleuchten wir den zeitgeschichtlichen Kontext genauer und sprechen über Märchen und die Epoche der Romantik.

Es ist ja bereits in vielen Folgen deutlich geworden, insbesondere wenn es um so diskutable Themen die Frauen im Märchen (Folge 11, „Von Rebellinnen, Fischgarn und einem Glasberg“) oder „Diversität im Märchen“ (Folge 15, „Die Diversity-Challenge“) ging: Märchen können nicht losgelöst von ihrem zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet werden. Zum einen ist es ohne zeitgeschichtlichen Kontext nicht möglich, Märchen in ihrer Tiefe zu verstehen. Zum anderen ist eine Diskussion über Märchen ohne die Berücksichtigung der Zeit, in der sie entstanden sind, unvollständig, ja sogar inhaltslos – denn dass sich die Norm- und Wertevorstellungen von vor über 300 Jahren nicht auf unsere heutige Zeit übertragen lassen, bedarf ja nicht wirklich irgendeiner Diskussion, oder? 

Ein Blick auf die Zeitgeschichte

In unserer Märchenkunde in Folge 21, „Zwei Brüder, ein Irrglaube und jede Menge Romantik“, klären wir unter anderem die Frage, was zeitgeschichtlicher Kontext eigentlich bedeutet. Letztlich geht es dabei um nichts anderes, als sich anzusehen: Was waren die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ereignisse dieser Zeit?  

Das ist wichtig, weil derartige Ereignisse das Denken der Menschen beeinflusst und damit Auswirkungen auf ihr Weltbild haben.  Und genau das ist es, was Literatur verarbeitet. Literatur ist immer ein Spiegel ihrer Zeit, eine Auseinandersetzung mit den zeitgeschichtlichen Begebenheiten,  zustimmend oder ablehnend, kritisch oder begeisternd. 

Die Literaturepochen 

Hier kommen die Literaturepochen ins Spiel. Sie bezeichnen einen Abschnitt in der Literaturgeschichte, der durch bestimmte Ereignisse und Denkweisen geprägt war, die sich in Form bestimmter Merkmale, Motive und Themen in der Literatur widerspiegeln. Dabei können Epochen unterschiedlich lang sein, wenige Jahre oder sogar mehrere Jahrhunderte.  

Unabhängig von ihrer Länge sind Epochen aber nichts Statisches. Das bedeutet, sie können nicht eindeutig voneinander getrennt werden, weil sie sich immer gegenseitig beeinflussen, bedingen und zum Teil auch parallel verlaufen. Das seht ihr schon, wenn ihr euch die Jahreszahlen einzelner Epochen anschaut. Ihr werdet einige Überschneidungen feststellen. 

➸ Übrigens: Wir sprechen hier von der Literaturepoche der Romantik. In der Musik oder der Architektur verlief die gleichnamige Epoche anders und umfasst auch einen ganz anderen Zeitraum. 

Romantik altes Buch
Literatur verarbeitet immer die Themen ihrer Zeit. | Foto: Dim Hou / Unsplash

Von wegen romantisch

Die Epoche, in der die Brüder Grimm ihre Märchen sammelten und veröffentlichten, ist die Romantik. Wer jetzt an flackernden Kerzenschein, einen goldenen Sonnenuntergang oder innige Liebesschwüre denkt – leider nein, leider gar nicht. Das, was wie heute unter Romantik verstehen, hat mit dem Selbstverständnis der Literaturepoche Romantik eher wenig zu tun. Zwar stellt sie durchaus Gefühl und Leidenschaft in den Fokus, allerdings auf einer anderen, mythischen Ebene. 

Aber ordnen wir die Epoche erst einmal zeitlich ein. Die Romantik umfasst den Zeitraum von 1795 bis 1848 und kann in drei Phasen unterteilt werden:  

  1. Frühromantik (1798 – 1804) 
  2. Hochromantik (1805 – 1814) 
  3. Spätromantik (1818 – 1840) 

In diesen Phasen waren verschiedenen Themen unterschiedlich ausgeprägt. So setzte sich die Frühromantik intensiv mit antiken Mustern, wie sie in der Weimarer Klassik (1786–1832) verehrt wurden, auseinander und wandte sich von diesen ab. Die Hochromantik war die Hochphase der Sammlung und Herausgabe mittelhochdeutscher Dichtung, während in der Spätromantik viele Dichter*innen zum katholischen Glauben zurückkehrten oder konvertierten. Außerdem entwickelte sich in dieser Phase die Schwarze Romantik, eine Unterströmung der Romantik, die durch sehr düstere und melancholische Züge geprägt ist. 

Eine Gegenbewegung zur Aufklärung 

Um das Denken der Romantiker*innen zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick auf die Vorgängerpoche werfen: die Aufklärung (1720–1800). Aus heutiger Sicht wird die Epoche sehr positiv gewertet, weil sie, so pathetisch es auch klingen mag, den Aufbruch in eine neue Zeit bedeutet. Es entwickelte sich ein bürgerliches Bewusstsein, das nach Freiheit und Vernunft strebte und die bestehenden Herrschaftsstrukturen hinterfragte – und das auf gesellschaftlicher, politischer und religiöser Ebene. Ihr Streben nach “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” gipfelte 1789 in der Französischen Revolution. Diese Forderung ist auch in unserer heutigen Welt immer noch aktuell. 

Die Vertreter*innen der Romantik lehnten die Ideale der Aufklärung jedoch ab. Als Gegenbewegung zur Aufklärung wollten sie in einer von Vernunft und Wissenschaft geprägten, immer technischer werdenden Welt das Mystische und Geheimnisvolle bewahren. Sie wollten eben nicht alles erklären, empfanden ihre Umwelt als feindselig und verabscheuten die lauten und schmutzigen Städte.  

Veränderungen der Zeit 

Wie alle Literaturepochen so ist die Romantik damit ebenfalls eine Reaktion auf die politischen Turbulenzen und gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Zeit. Und davon gab es einige: 

  1. die Französische Revolution (1789) 
  2. die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806) 
  3. die Befreiungskriege (1813–1815) 
  4. der Wiener Kongress(1814–1815) 
  5. die Industrialisierung 

Insgesamt war die Romantik also eine turbulente Zeit mit tiefgreifenden Veränderungen. Daraus ergibt sich ein bestimmter Blick auf die Welt, der sich in spezifischen Merkmalen und Motiven äußerte, die als typisch für die Romantik gelten. 

Themen und Merkmale der Romantik 

Jede Literaturepoche hat bestimmte Themen, die ihre Literatur verarbeitet, und Merkmale, die sich auf die Gestaltung der Literatur auswirken. In der Romantik waren das: 

  • Weltflucht: Ablehnung der Entwicklungen der Zeit, Flucht in Traum- und Melancholiewelten. 
  • Hinwendung zur Natur: Idealisierung der Natur als Ort, an dem die Sehnsucht nach dem Schönen und geheimnisvollen Erfüllung findet. 
  • Betonung des Individuums: subjektive Gefühle stehen, anders als in der Aufklärung, über dem Verstand. 
  • Verklärung des Mittelalters: Reaktion auf die Weimarer Klassik, die sich, um die enttäuschten ideale der Aufklärung zu verarbeiten, der antiken Sagenwelt und ihren Helden zuwandte. Die Romantik besann sich aufs Mittelalter und verherrlichte, romantisierte es. Die Missstände dieser Zeit ließ sie außer Acht. 

Im Zuge der Rückbesinnung auf die Sagenwelt des Mittelalters entstanden in der Romantik erstmals Sammlungen sogenannter Volkspoesie – und damit eben auch die Märchen der Brüder Grimm. Denn auch Jakob und Wilhelm Grimm wollten mit ihren Märchen einen Beitrag dazu leisten, die nationale Idee zu verwirklichen und heimische Erzählungen bewahren. Warum das nicht so ganz geklappt hat, hört ihr übrigens auch in Folge 21.  

Romantik dunkler Wald
Ein typischer Schauplatz der Romantik und des Märchens: der dunkle Wald. | Foto: Rosie Sun / Unsplash

Typische Motive der Romantik 

In der Literatur der Romantik tauchen bestimmte Motive, die die Themen der Epoche verbildlichen, immer wieder auf. Einige davon finden wir auch im Märchen wieder. 

Die blaue Blume 

Im Märchen eher nicht vertreten, dennoch das zentrale Motiv der Romantik: die blaue Blume. Sie steht für alles, was der Romantik wichtig war: Natur, Mensch und Geist sowie das Streben nach der Erkenntnis der Natur und des Selbst. 

Das Nachtmotiv 

Die Nacht als Schauplatz des Unheimlichen und Mystischen ist ebenfalls ein charakteristisches Motiv der Romantik, das in vielen literarischen Werken dieser Zeit verarbeitet wurde. Damit in Verbindung sind typisch „romantische“ Orte wie Friedhöfe, Ruinen, dunkle Wälder (die uns ja sehr häufig in Märchen begegnen), Moore, Nebellandschaften und Höhlen – also alles, was schaurig-schön und geheimnisvoll ist. 

Das Spiegelmotiv 

Dieses Motiv schreit nach Märchen: das Spiegelmotiv. Wir kennen es zum Beispiel aus Schneewittchen (das wir ausführlich schon in unserer Folge 9 „Ricottakäse und Disneyzauber“ behandelt sowie in Folge 8 als Hörspiel eingelesen haben). Der Spiegel steht für die Hinwendung zum Unheimlichen und Übernatürlichen und ist die Schnittstelle zwischen Realem und Irrealem. Außerdem rückt er das Ich in den Fokus und steht für die Ich-Bezogenheit dieser Zeit. 

Ziel der Romantik 

Was wollte die Romantik also? Zum einen wollte sie sich von den Idealen der Aufklärung und der Weimarer Klassik abgrenzen und das Schöne und Geheimnisvolle in der Welt ebenso bewahren wie die nationalen Geschichten. Zum anderen wollte sie einer vernunftgesteuerten, immer technischeren Welt entfliehen, in der die Schönheit und das Unerklärliche mehr und mehr verloren gingen. Oder drücken wir es anders aus, mit den Worten von Novalis:

Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.

Romantische Märchen 

Es ist selbsterklärend, dass die Romantik natürlich auch Einfluss auf die Grimms und damit auf die Märchen hatte, die sie niederschrieben. Viele Gemeinsamkeiten habt ihr beim Lesen wahrscheinlich schon erkannt. Die Einflüsse der Romantik sind in den Grimm-Märchen sehr deutlich erkennbar: 

  1. Märchen sind Flucht- und Fantasiewelten: In Märchen spiegelt sich das Verlangen nach einer märchenhaften, fantasievollen Traumwelt, die nur im Bewusstsein des Menschen existiert.  
  2. Märchen sind ein Kontrast zu einer immer technisierteren, rational geprägten Welt: Eine solche Welt lehnten die Romantiker*innen ab.  
  3. Märchen romantisieren die Welt und bewahren das Gute und Schöne. 
  4. nationaler Gedanke: Bewahrung der eigenen Kultur durch Märchen. 
  5. Neuschöpfung des Kunstmärchens: Die Natur ist hier nicht mehr nur Kulisse wie im Volksmärchen, sondern ein eigenes Ausdruckselement. 
  6. Das Schaurig-Schöne: Märchen haben gruselige, unheimliche Elemente. 

Mit diesen Hintergründen seht ihr die Grimm-Märchen künftig vielleicht mit anderen Augen und einem klareren Blick. Und ihr seht, dass Märchen historische Zeugnisse sind, die uns trotz ihrer scheinbaren Einfachheit unglaublich viel über die Zeit, in der sie entstanden sind, erzählen. Damit sind sie nicht bloß eine Geschichte, sondern auch eine Geschichte über die Geschichte.

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