Hintergründe

Gut und Böse im Märchen: der ultimative Gegensatz

Gut und Böse im Märchen Hänsel und Gretel vor dem Haus der Hexe

Der Gegensatz von Gut und Böse begegnet uns in nahezu jedem Märchen. Hier schauen wir uns die Darstellung dieses Gegensatzes genauer an.

Gut und Böse im Märchen: immer extrem

Wenn es um die typischen Merkmale von Märchen geht, wird ein Aspekt stets als erstes genannt: das Aufeinandertreffen von Gegensätzen. Insbesondere im Volksmärchen, das keine Grautöne, sondern nur Extreme kennt, sorgt das Aufeinandertreffen von krassen Gegensätzen für Konflikte. Zu diesen Gegensätzen gehören zum Beispiel faul und fleißig wie in Frau Holle, schön und hässlich wie in Brüderchen und Schwesterchen oder arm und reich, wozu wir schon eine ganze Folge aufgenommen haben (Folge 33).

Doch ganz unabhängig davon, um welche gegensätzlichen Eigenschaften es geht, ein Gegensatzpaar liegt ihnen allen zugrunde. Es ist der ultimative Gegensatz, aus dem alle anderen Kontraste entstehen, nahezu alle Konflikte im Märchen und letztlich auch alle Märchenfiguren finden in ihm ihren Ursprung und Ausgangspunkt. Die Rede ist vom Gegensatz zwischen Gut und Böse. Und genau darum geht es in diesem Artikel sowie unserer Märchenpott-Folge 71 “Von Helden, Schurken und dem bösesten Bösewicht.”

Definition: Was ist gut? Was ist böse?

Eine allgemeingültige Definition von Gut und Böse gibt es nicht. Trotzdem kann jeder Mensch diese zwei Begriffe mit Inhalten füllen, denn alle Kulturen haben eine Vorstellung von dem, was gut und damit richtig und was böse und damit falsch ist. 

So wird “gut” als “vom Menschen her positiv bewertet, empfunden, gefühlt und dergleichen” definiert, Synonyme sind “schön”, “wohl”, “fein” oder “okay”. Böse wiederum gilt als moralisch schlecht oder verwerflich. Was das im Konkreten bedeutet, hängt von Kultur, Gesellschaft, dem Welt- und Menschenbild sowie der Religion, aber auch dem zeitgeschichtlichen Kontext ab. 

Moral

Eng mit der Wertung von Gut und Böse verbunden ist die Moral. Denn das, was wir als gut oder böse bewerten, ist auch das, was wir als richtig und falsch empfinden. Laster und Tugend sind nichts anderes als Kategorien für erwünschte und unerwünschte Verhaltensweisen. Die Moral hilft uns dabei, die richtigen von den falschen Verhaltensweisen zu unterscheiden und lässt uns moralisch handeln.

Denn unter Moral verstehen wir die normativen Orientierungen, also Ideale, Werte, Regeln und Urteile, die das Handeln von Menschen bestimmen bzw. bestimmen sollten. Auf einen Verstoß gegen diese Regeln sollten sie mit Schuldgefühlen reagieren. Moralvorstellungen verankern in uns also einen Bewertungsmechanismus, der uns in Gut und Böse unterscheiden lässt.

Das Konzept der Dualität

Was gut und was böse ist, ist jedoch nicht immer ganz eindeutig festzulegen. Es gibt Verhaltensweisen, wie beispielsweise das Lügen, das grundsätzlich als falsch abgelehnt wird. Dennoch gibt es Situationen, in denen eine Lüge gerechtfertigt sein kann. An dieser Stelle verschwimmen gut und böse miteinander, an diesem simplen Beispiel zeigt sich: Gut und Böse sind nicht eindeutig voneinander zu trennen. Sie bedingen sich gegenseitig.

Hier greift das Konzept der Dualität. Es bezieht sich auf die Vorstellung, dass jeder Mensch sowohl gute als auch schlechte Eigenschaften in sich trägt.  Populär gemacht hat diese Idee der Roman Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson aus dem Jahr 1886. An dem zentralen Motiv der gespaltenen Persönlichkeit vollzieht sich nicht nur der Kampf zwischen Gut und Böse. Es zeigt auch, dass beide Pole untrennbar miteinander verbunden sind, dass jeder Mensch Gutes wie Böses in sich trägt und immer im Spannungsfeld dessen agiert, was passiert, wenn man einerseits bestimmte Seiten seiner Persönlichkeit unterdrückt, andererseits aber das Böse kontrollieren muss, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. 

Gut und Böse in der Wissenschaft

Die Frage nach Gut und Böse sowie ihrer Entstehung hat auch die Wissenschaft immer schon beschäftigt, allen voran die Philosophie. Der griechische Denker Aristoteles hat schon in der Antike die Ethik als eigenständige philosophische Disziplin eingeführt. Sie beschäftigt sich mit den Werten, Normen und Sitten einer Gesellschaft – der Moral.  

Auch die Naturwissenschaften haben versucht, das Gute und das Böse im Menschen zu ergründen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa hat der Gefängnisarzt Cesare Lombroso die Schädelformen von Schwerkriminelle untersucht und daraus abgeleitet, dass Verbrecher von Geburt an böse seien und man ihnen das äußerlich ansehen könne – eine haltlose Theorie, auf die sich auch die Nazis in ihrer menschenverachtenden Rassentheorie stützen. 

Mehrere Faktoren

Inzwischen wissen wir, dass eine Vielzahl von Faktoren Einfluss auf unsere Entwicklung nehmen. Biologische Faktoren sind dafür ebenso verantwortlich wie soziologische. Neueste Forschungen zeigen zudem, dass Verletzungen in verschiedenen Hirnregionen kriminelle Handlungen begünstigen können. So haben Neurologen und Neurologinnen vom Beth Israel Deaconess Medical Center in Massachusetts die Gehirne von 17 Straftätern untersucht, die sich zuvor am Kopf verletzt hatten und wegen Körperverletzung, Vergewaltigung oder Mord verurteilt worden waren. Das Ergebnis: Alle verletzten Hirnregionen betrafen ein neuronales Netzwerk, das für moralische Entscheidungen aktiv ist. 

Formen von Gut und Böse im Märchen

Die Frage nach der Entstehung des Bösen, die Frage danach, warum manche Menschen dem Bösen mehr nachgeben als andere, ist hochkomplex. Im Märchen allerdings ist das Ganze ziemlich einfach. Wer auf der guten Seite steht und wer auf der bösen, ist schon nach wenigen Sätzen erkennbar. Bestimmte Figuren wie die Hexe, der Wolf oder die Stiefmutter sind zudem als Bösewichte etabliert und können schon als Gegenspieler*innen und Bedrohung identifiziert werden, bevor sie überhaupt aktiv geworden sind. Insgesamt lassen sich zwei grundlegende Erscheinungsformen von Gut und Böse im Märchen unterscheiden: Handlungen und Figuren.

Gute und böse Figuren

Gut und böse treten im Märchen in verschiedenen Gestalten auf. Auch wenn es ein paar Ausnahmen gibt, so gelten Prinz und Prinzessin zumindest im Volksmärchen tendenziell deutlich eher gut, Hexe und Stiefmutter hingegen als böse.

Diese Märchenfiguren sind meistens böse:

Die Bösewichte im Märchen nehmen stets die Rolle des Antagonisten oder der Antagonistin ein, sie sind die Gegenspieler und -spielerinnen des Protagonisten oder der Protagonisten, die durch sie geprüft werden und beweisen können, wie gut sie sind. Das Gute erscheint vor allem deshalb so gut, weil es dem Bösen gegenübergestellt wird. Beide Seiten gehen im Märchen also eine Wechselwirkung ein, die vor allem die Wahrnehmung der Lesenden beeinflusst. Durch das Böse wirken die Guten noch besser, durch die Guten wirkt das Böse noch böser.

Diese Märchenfiguren sind meistens gut:

  • Prinz und Prinzessin
  • Bruder und Schwester
  • Kinder

Sie sind die Hauptfiguren des Märchens, ihre Eigenschaften werden geprüft, indem sie mit dem Bösen konfrontiert werden. Dadurch beweisen sie, dass sie das Attribut “gut” auch wirklich verdienen, denn sie lassen sich von dem Bösen nicht beirren, bleiben sich selber treu oder ziehen aus der Auseinandersetzung mit der Gegenseite die Kraft und die Motivation für gute Taten.

Gute und böse Handlungen

Die guten und bösen Märchenfiguren üben gute und böse Handlungen aus. Dabei kommt es kaum zu einer Vermischung. Nur selten begeht der Protagonist oder die Protagonistin eine böse Tat. Verhält er oder sie sich doch einmal falsch, wird er oder sie dafür bestraft und lernt daraus. Die bösen Figuren begehen ausschließlich böse Taten.

Gute TatenBöse Taten
Hilfsbereitschaft, z.B. Schneeweißchen und RosenrotNeid und Missgunst, z.B. Schneewittchen oder Brüderchen und Schwesterchen
Duldsamkeit, z.B. Die GänsemagdLügen, z.B. Pinocchio
Bescheidenheit, z.B. AschenputtelHabgier, z.B. Der Faule und der Fleißige
Fleiß, z.B. Frau Holle Faulheit, z.B. Frau Holle
Liebe, z.B. Die Schöne und das TierMobbing, z.B. Aschenputtel
Mildtätigkeit, z.B. Schneeweißchen und RosenrotList und Tücke, z.B. Schneewittchen
Gottesfürchtigkeit, z.B. Schneeweißchen und RosenrotVerwünschungen, Verzauberungen und Flüche, z.B. Dornröschen
körperliche Grausamkeiten, z.B. Von dem Wacholderbaum
Femizide, z.B. Blaubart oder Fitchers Vogel
Mord, z.B. Von dem Wacholderbaum

Hier lässt sich eine weitere Unterscheidung vornehmen, denn gute und böse Aktionen im Märchen erfolgen auf mehren Ebenen:

  • Eigenschaften, z.B. Neid und Missgunst oder Fleiß und Bescheidenheit
  • physische Handlungen, z.B. Gewalt und körperliche Grausamkeiten bis hin zum Mord
  • psychische Handlungen, z.B. Mobbing
  • magische Handlungen, z.B. Flüche und Verzauberungen.

Insbesondere das Böse erhält so eine Bandbreite an Erscheinungsformen, die ihm trotz der Einfachheit der Textsorte Märchen eine gewisse Komplexität verleihen. Legen wir den pädagogischen Anspruch zugrunde, den Wilhelm Grimm mit der Darstellung von Gut und Böse in den Kinder- und Hausmärchen erreichen wollte, ergibt diese Darstellungsweise Sinn, denn sie zeigt: Das Böse taucht in verschiedenen Formen und Gestalten auf.

Facetten des Bösen im Märchen

Das Böse im Märchen ist das, an dem sich das Gute abarbeiten muss. Laut Verena Kast (vgl. Jacoby, Mario, Verena Kast und Ingrid Riedel: “Das Böse im Märchen”, Herder, Freiburg, 1994) zeigen sich die Facetten im Märchen in zwei grundlegenden Strukturen:

  1. Ausgangssituation: Es liegt eine Not vor, die behoben werden muss. Sie veranlasst den Held oder die Heldin, einen Weg voller Hindernisse zu beschreiten und sich dem Bösen zu stellen.
  2. Dem Bösen entgehen: Die Hauptfigur wird mit dem eindeutig Bösen konfrontiert, das nur zerstören will. Dieses Böse muss vernichtet werden.

Funktion des Bösen im Märchen

Gut und Böse treten im Märchen deshalb als so krasser Gegensatz auf, um zuallererst die pädagogische Funktion dieser Textsorte zu erfüllen. Der erzieherische Auftrag, den vor allem Wilhelm Grimm in die Kinder- und Hausmärchen eingearbeitet haben, erfüllt sich insbesondere dadurch, dass im wahrsten Sinne des Wortes jedes Kind sofort begreift, wer im Märchen gut und wer böse ist. 

Gut und Böse im Volksmärchen…

  • … haben klar zugeschriebene Verhaltensweisen.
  • … werden nicht in Frage gestellt. 
  • … sollen gesellschaftliche Moral- und Wertvorstellungen festigen, nicht hinterfragen.
  • … schaffen ein einfaches Weltbild.
  • … bringen Kindern das Konzept von Gut und Böse auf einfache Weise näher.

Aber auch für Erwachsene sind Märchen durch dieses Schwarz-Weiß-Bild attraktiv gewesen. In der politisch unruhigen Zeit der Restaurationsepoche (1815–1848) zog sich der Biedermeier ins Private und Häusliche zurück. Die dominanteste der drei Strömungen dieser Zeit vertrat konservative Werte und resignierte angesichts einer immer komplexer werdenden Welt. Märchen vereinfachen die Wirklichkeit, hier muss nichts hinterfragt werden und es ist leicht, sich auf die richtige Seite zu stellen. Dies kam den Menschen im Biedermeier sehr entgegen – ein Grund, warum Märchen in der Biedermeier-Epoche so beliebt waren.

Im Überblick: Gut und Böse im Märchen

  • Eine eindeutige Defintion von Gut und Böse gibt es nicht.
  • Im Volksmärchen treten Gut und Böse als starker Gegensatz auf.
  • Es gibt keine Grautöne.
  • Gute und böse Handlungen und Figuren werden nicht hinterfragt. So vermittelt das Märchen ein simples Weltbild, in dem die Rollen klar verteilt sind.
  • Gute und böse Taten treten in verschiedenen Formen auf: In Gestalt von bestimmten Figuren oder durch bestimmte Handlungen.
  • Typische böse Märchenfiguren sind die Hexe, die Stiefmutter und der Wolf. Auf der Seite der Guten stehen in der Regel stets Prinz und Prinzessin.
  • Die Handlungen lassen sich Eigenschaften, physische Handlungen, psychische Handungen und magische Handlungen unterteilen.
  • Obwohl die Darstellung von Gut und Böse sehr einfach und eindeutig ist, ist vor allem das Böse durch seine vielfältigen Erscheinungsformen recht komplex.

Podcast-Tipp: Märchenpott Folge 71 über Gut und Böse im Märchen

Wenn euch das Thema Gut und Böse interessiert, dann hört in unsere Podcast-Folge 71 “Von Helden, Schurken und dem bösesten Bösewicht” rein. Darin beschäftigen wir uns ausführlich mit der Frage nach Gut und Böse, werfen einen Blick auf Darstellung, Facetten, Formen und Funktion dieser Gegensätze im Märchen und schauen uns an, warum Jacob Grimm Gut und Böse in seinem Extremen darstellen wollte. Außerdem küren wir den bösesten Märchenschurken ever.

Ihr findet den Märchenpott auf:

Und da wir noch ganz viele Ideen haben, freuen wir uns über jeden Zuhörer und jede Zuhörerin, den oder die wir mit unserer Begeisterung für Märchen ein klein wenig anstecken können. Hört und abonniert uns, folgt uns auf Instagram und lasst uns im besten Fall eine positive Bewertung da. Wir freuen uns über euer Feedback! ♥


Bildnachweis: Arthur Rackham creator QS:P170,Q314938, Hansel-and-gretel-rackham, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons