Wenn wir über die Textsorte Märchen sprechen, bewegen wir uns in der literarischen Gattung der Epik. Doch was sind literarische Gattungen überhaupt? Und welche gibt es? Das erklären wir euch hier.
Literarische Gattungen: drei wichtige Kategorien
Bei der Frage „Was sind Märchen?“ geht es auch darum, Märchen in ihrem literarischen Umfeld wahrzunehmen. Denn das Märchen ist nur eine von zahlreichen Textformen. Ob Sage, Kurzgeschichte, Gedicht oder eine Bedienungsanleitung – jeder Text weist bestimmte formale und inhaltliche Kriterien auf, durch die er einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden kann. Bei literarischen Texten wird diese Kategorie als Gattung bezeichnet. Was das genau ist, welche literarischen Gattungen es gibt und wo wir das Märchen einordnen können, haben wir hier ausführlich zusammengestellt.
Fiktionale und nicht-fiktionale Texte
Bevor wir uns die literarischen Gattungen näher ansehen, müssen wir vorab noch eine andere Einteilung vornehmen: die in fiktionale und nicht fiktionale Texte. Alle Texte können eine dieser beiden Gruppen zugeordnet werden. Das einzige Unterscheidungskriterium ist dabei: Handelt es sich um fiktionale oder non-fiktionale Texte?
Nicht-fiktionale Texte
Nicht-fiktionale Texte werden auch als faktuale Texte bezeichnet, weil sie sich auf reale Fakten beziehen. Ihre Aufgabe ist es, Informationen wiederzugeben. Dabei haben sie keinen literarischen Anspruch. Sie begegnen euch im Alltag in Form von Gebrauchsanweisungen, Kochrezepten oder in eurem WhatApp-Chat. Zeitungsartikel, Berichte und Reportagen gehören ebenfalls zu den non-fiktionalen Texten. All diese Textarten haben zwar unterschiedliche Funktionen und Besonderheiten, ihnen allen ist jedoch gemein, dass sie sich immer auf die Wirklichkeit beziehen.
Fiktionale Texte
Das wesentliche Merkmal von fiktionalen Texten ist, dass sie ihre eigene Wirklichkeit erschaffen. Diese muss mit der tatsächlichen Realität nichts zu tun haben, denn bei fiktionalen Texten handelt es sich um erdachte Texte. Sie schaffen eine Fiktion. Indem sie diese mit der Wirklichkeit vermischen, erschaffen sie eine Wirklichkeitsillusion. Diese weist bestimmte strukturelle Übereinstimmungen zwischen der tatsächlichen und der in der Geschichte erschaffenen Realität auf, um es dem Leser oder der Leserin zu ermöglichen, die Wirklichkeitsillusion aufzunehmen.
Wie stark die Übereinstimmungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sind, hängt von der jeweiligen Textsorte ab. Ein Krimi, der in der heutigen Zeit angesiedelt ist, hat in der Regel mehr Wirklichkeitsbezug als ein Fantasyroman, der euch in komplett neu erdachte Welten führt. In eine Kurzgeschichte kannst du dich leichter hineinversetzen als in ein Märchen, das mit vielen übernatürlichen Elementen ausgestattet ist. Entscheidend dabei ist, dass ihr als Leser oder Leserin die erzählte Wirklichkeit mit der eigenen in Beziehung setzen könnt.
Defintion: Das ist eine literarische Gattung
Und damit sind wir bei den literarischen Gattungen. Habt ihr einen Text in die Gruppe der fiktionalen Texte eingeordnet, stellt sich die Frage: Zu welcher literarischen Gattung gehört er? Eine Gattung ordnet literarische Werke aufgrund ihrer inhaltlichen und formalen Merkmale in bestimmte Kategorien: Epik, Dramatik und Lyrik. Jede dieser drei Gattungen hat charakteristische Merkmale, die für alle Textsorten in dieser Gattung gelten. Diese Textsorten weisen dann wiederum spezifische Besonderheiten auf, die sie dann zum Beispiel als Märchen klassifizieren.
Vergleichbar ist der Gattungsbegriff mit dem des Genres beim Film. Nehmen wir Elenas Lieblingsgenre Horror als Beispiel: In das Genre „Horrorfilm“ fallen alle Filme, die mit Thema und Gestaltung darauf abzielen, beim Zuschauer oder bei der Zuschauerin Grusel und Angst auszulösen. Doch Horrorfilm ist nicht gleich Horrorfilm: Mit Splatter Movies, Explotation Filmen, Torture Porn, Rape and Revenge, Monster- oder Bodyhorror, Haunted House Filmen, Home Invasion oder dem guten alten klassischen Gruselfilm gibt es zahlreiche Subgenres, also Unterarten. Somit sind die Gattungsbegriffe in der Literatur nichts anderes als Sammelbegriffe, die Texte in ein bestimmtes Genre einteilen.
Die drei literarischen Gattungen
Das heutige Gattungssystem mit seiner Dreiteilung in Epik, Dramatik und Lyrik geht auf die „Poetik“ des Aristoteles zurück und ist eine rein wissenschaftliche Einteilung. Sie wurde im 18. Jahrhundert vor allem von Goethe aufgenommen, der die Großgattungen Epik, Dramatik und Lyrik als „Naturformen“ der Literatur ansah. Sie werden auch als Gattungstrias bezeichnet. Der Dichter sah in ihr das Abbild menschlicher Haltungen und Stimmungen: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde.
Die Literaturwissenschaft kennt noch eine ganze Reihe weiterer Konzepte, mit deren Hilfe literarische Texte in Gruppen eingeordnet werden. So nennen manche beispielsweise die Sachliteratur als vierte Gruppe.
Die erste literarische Gattung: die Epik
Wenn wir uns in unserem Podcast mit Märchen beschäftigen, bewegen wir uns in der ersten literarischen Gattung, der Epik. Der Begriff „Epik“ deutet bereits auf die Gemeinsamkeit von epischen Texten hin: Sie haben alle einen Erzähler. Denn die Bezeichnung „Epik“ bedeutet „Wort“ oder „Erzählung“. Weitere epische Texte sind zum Beispiel Romane, Kurzgeschichten, Fabeln oder Novellen.
Weitere Merkmale der Epik sind:
- Unterscheidung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit
- ungebundene Sprache
Der Erzähler
Dem Erzähler kommt in allen epischen Texten eine zentrale Aufgabe zu: Er führt durch die Geschichte. Das ermöglicht die Schilderung von Gedanken und Gefühlen der handelnden Figuren, die Beschreibung der Umgebung oder Rückblicke, Vorausdeutungen oder Kommentare.
Der Erzähler wird immer vom Autor oder der Autorin bestimmt. Die Entscheidung für eine bestimmte Form des Erzählers wirkt sich entscheidend auf unsere Wahrnehmung der Geschichte aus. Denn jeder Erzähler nimmt eine bestimmte Erzählperspektive ein. Sie wird auch als Erzählverhalten bezeichnet und unterteilt sich in vier verschiedene Formen:
Erzählperspektive | Erklärung |
der neutrale Erzähler | Er ist der unauffällige Beobachter. Er gibt nur das wieder, was von außen sichtbar ist. Die Gefühle und Gedanken der Figuren kennt er nicht. Auch er selbst bleibt still und kommt nicht in der Geschichte vor. Außerdem macht er sich nicht durch Kommentare bemerkbar. |
der auktoriale Erzähler | Er ist der Allwissende. Er weiß wirklich alles und kennt Vergangenheit, Zukunft, Gedanken und Gefühle jeder einzelnen Person, die in der Geschichte auftaucht. Zwar kommt auch er nicht selbst als Figur in der Geschichte vor. Durch Kommentare und Bewertungen kann er sich jedoch in die Geschichte einmischen und den Leser oder die Leserin direkt ansprechen. |
der personale Erzähler: | Er ist auf eine Person beschränkt. Er nimmt die Sicht einer bestimmten Figur ein und erzählt die Geschichte aus ihrer Sicht. Die Sichtweise kann auch wechseln. |
der Ich-Erzähler: | Er bietet das höchste Identifikationspotenzial. Der Leser oder die Leserin erlebt die Geschichte aus der Ich-Perspektive und damit alles aus der Sicht einer Person. So weiß er oder sie nur das, was diese Person weiß. |
Wichtig: Der Autor oder die Autorin ist nicht mit dem Erzähler gleichzusetzen. Insbesondere beim Ich-Erzähler wird häufig der Fehler gemacht, ihn als Autor oder Autorin zu bezeichnen. Auch wenn der Erzähler autobiografische Züge aufweisen kann, hat er nichts mit dem Verfasser oder der Verfasserin gemein. Der Erzähler ist die Perspektive, durch die der Autor oder die Autorin seine Geschichte erzählt. Er ist fiktiv und nicht an den Schreiber oder die Schreiberin gebunden.
Erzählzeit und erzählte Zeit
Dadurch, dass epische Texte eine Geschichte erzählen, ergibt sich ein weiteres Merkmal dieser Textgattung: die Erzählzeit und die erzählte Zeit. Die Erzählzeit bezeichnet die Zeit, die für das Lesen der Geschichte benötigt wird. Die erzählte Zeit ist die Zeit, die in der Geschichte vergeht. Aus ihrem Verhältnis ergibt sich das Erzähltempo, abhängig davon, ob die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit oder umgekehrt. Erzählzeit und erzählte Zeit können auch gleich lang sein.
Ungebundene Sprache
Ebenfalls ein wesentliches Merkmal epischer Texte ist ihre ungebundene Sprache. Sie sind ohne Reim oder Rhythmus verfasst. Das unterscheidet epische Texte zum Beispiel von lyrischen. Gedichte haben ein Reimschema und ein Metrum, sind in Strophen und Verse gegliedert und damit gebunden. Der ungebundene Sprachstil wird als Prosa bezeichnet.
Die zweite literarische Gattung: Dramatik
Dramatische Texte sind für die Bühne gemacht. Da sie geschrieben werden, um sie aufzuführen, haben sie keinen Erzähler, der durch die Handlung führt. Stattdessen sind sie immer in wörtlicher Rede verfasst. Meist kursiv gedruckt kann es zudem Regieanweisungen geben, die in einer Theaterinszenierung jedoch nicht zwangsweise auch umgesetzt werden müssen, sondern den Vorstellungen des Verfassers oder der Verfasserin entsprechen. Auch Anmerkungen zum Bühnenbild können enthalten sein. Dramatische Texte sind also Theaterstücke, die sich lesen wie ein Drehbuch.
Da sie keinen Erzähler haben, müsst ihr euch das Geschehen allein aus der wörtlichen Rede ableiten.
Merkmale der Dramatik
Grundsätzlich lassen sich dramatische Texte in zwei Arten unterscheiden: Hat das Stück ein Happy End, handelt es sich um eine Komödie. Endet es mit dem Tod einer oder mehrerer Figuren, ist es eine Tragödie. Beispiele für bekannte Dramen sind neben Shakespeares „Macbeth“ oder „Romeo und Julia“ zum Beispiel Goethes „Faust“, das Aufklärungs-Drama „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing oder „Maria Stuart“ von Friedrich Schiller.
Merkmale dramatischer Texte sind:
- Sie gliedern sich in Szenen und Akte. Statt Akt findet sich auch die Bezeichnung „Aufzug“.
- Sie sind in Dialogform verfasst. Spricht über längere Zeit nur eine Rolle, handelt es sich um einen Monolog.
- Es gibt Regieanweisungen.
- Es gibt keinen Erzähler.
- Unterscheiden könnt ihr zwischen Tragödien und Komödien.
Eine Mischform ist die Tragikomödie. In ihr sind die Merkmale von Tragödie und Komödie eng miteinander verknüpft.
Die dritte literarische Gattung: Lyrik
Die dritte literarische Gattung ist die Lyrik. Sie umfasst Gedichte aller Art, etwa Sonett, Haiku, Elegie, Ode, Elfchen, Epigramm oder Akrostichon.
Der Begriff leitet sich von der Lyra ab, einem antiken, leierähnlichen Saiteninstrument, mit dem im alten Griechenland Gesänge begleitet wurden. Der enge Bezug der Lyrik zur Musik zeigt sich auch an der Liebeslyrik der Minnesänger im Mittelalter. Auch an anderen Merkmalen der Lyrik, wie die Einteilung in Strophen oder die Vewerndung eines Metrums, zeigt sich die Verbindung zwischen Musik und Poesie.
Merkmale der Lyrik
In ihrer sprachlichen und formalen Gestaltung unterscheiden sich lyrische Texte grundlegend von den Texten der anderen zwei literarischen Gattungen.
Zu den Lyrik-Merkmalen gehören:
- Gliederung in Strophen und Verse
- der lyrischen Sprecher: häufig in Form eines lyrischen Ichs kann es explizit, also ein klar erkennbares individuelles Ich, oder implizit sein und stellvertretend für eine Personengruppe stehen.
- kunstvolle, bildhafte Sprache
- gebundene Sprache: Reimschema, Kadenzen, Metrum
Gerade die moderne Lyrik verzichtet oft bewusst auf gedichtstypische Merkmale wie Reime oder Versmaß, um sich bewusst der Prosa anzunähern, Stilelemente zu mischen und neue dichterische Wege zu gehen.
Epik | Dramatik | Lyrik |
Es gibt einen Erzähler. | gliedert sich in Szenen und Akte | besteht aus Strophen und Versen |
bestimmte Erzählperspektive | Es gibt keinen Erzähler. | lyrischer Sprecher, oft lyrisches Ich |
Erzählzeit und erzählte Zeit plus Erzähltempo | Regieanweisungen enthalten | oft Reimschema, Versmaß und Kadenzen |
ungebundene Sprache (Prosa) | in Dialogform | gebundene, kunstvolle Sprache |
Die literarischen Gattungen und ihre Textsorten
Jede literarische Gattung umfasst eine Vielzahl verschiedener Textsorten, die ihrerseits ebenfalls wieder spezifische Merkmale aufweisen. So auch das Märchen. Wie zum Beispiel die Kurzgeschichte oder die Novelle gehört es zur literarischen Gattung der Epik. Somit ist allen drei Textsorten gemein, dass sie eine bestimmte Erzählperspektive haben, dass sich das Erzähltempo bestimmen lässt und dass sie als fließender Text, also in Prosa, verfasst sind.
Dennoch gibt es Aspekte, die sie unterscheiden und als die Textsorte ausmachen, die sie eben sind: das Märchen spielt in einer erfundenen Welt, beinhaltet übernatürliche Elemente und arbeitet mit Stereotypen. Die Kurzgeschichte erzählt von einer Alltagssituation im Leben eines Menschen, hat einen offenen Anfang und verwendet Alltags- und Umgangssprache. Und die Novelle berichtet von einem besonderen Ereignis und beinhaltet meist ein Dingsymbol.
Die literarischen Gattungen und ihre Textsorten im Überblick:
Epik | Dramatik | Lyrik |
Roman | Komödie | Sonett |
Kurzgeschichte | Tragödie | Ode |
Novelle | Tragikomödie | Elegie |
Märchen | Moralität | Elfchen |
Fabel | Mysterienspiel | Akrostichon |
Sage | Sittenstück | Lehrgedicht |
Legende | Versdrama | Madrigal |
Schwank | Dramolett | Rondell |
Parabel | Mirakelspiel | Lehrgedicht |
Ankedote | Haiku |
Mischformen
Nicht jede Textsorte lässt sich eindeutig einer bestimmten literarischen Gattung zuordnen. Oben erwähnt haben wir bereits die Tragikomödie, ein dramatischer Text, der Merkmale aus Tragödie und Komödie mischt. Ein weiteres Beispiel für eine literarische Mischform ist die Ballade. Sie vereint Merkmale aus allen drei literarischen Gattungen in sich. An bekannten Balladen wie „Der Erlkönig“ von Goethe oder „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff lassen sich Charakteristika aus Epik, Dramatik und Lyrik nachweisen.
Die literarischen Gattungen im Überblick
- Literarische Texte sind fiktionale Texte.
- Ihr könnt sie in drei literarische Gattungen unterteilen: Epik, Dramatik und Lyrik.
- Jede Gattung umfasst bestimmte Textsorten, die ebenfalls durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet sind.
- Es gibt auch Mischformen, wie zum Beispiel die Ballade oder die Tragikomödie.
- Das Märchen gehört in die literarische Gattung der Epik.