Hintergründe

Märchen: Aufbau und Erzählstruktur einfach erklärt

Märchen Aufbau Rotkäppchen

In unserer Märchenpott-Folge 67 gehen wir anhand des Märchens Rotkäppchen auf die Erzählstruktur im Märchen ein. Das möchten wir hier noch einmal vertiefen und den Aufbau und die Erzählstruktur von Märchen näher betrachten.

Märchen: Aufbau und Erzählstruktur

Die Frage „Was sind Märchen?“ wird in der Regel damit beantwortet, dass es sich dabei um leicht verständliche Geschichten handelt, die bestimmte Merkmale aufweisen. Zu diesen Merkmalen gehören zum Beispiel die Gegenüberstellung von Gut und Böse, stereotype Figuren wie Prinz oder Prinzessin sowie zauberhafte und übernatürliche Elemente. Aber auch die einfache Erzählweise ist ein spezifisches Charakteristikum der Textsorte Märchen. Getragen wird sie von einem bestimmten Aufbau und einer märchentypischen Erzählstruktur. Und genau die schauen wir uns hier an.

Der dreiteilige Aufbau von Märchen

Der Aufbau eines Märchens ist auf den ersten Blick ziemlich simpel und lässt sich in die drei Abschnitte

  • Einleitung,
  • Hauptteil und
  • Schluss

gliedern. Diese Einteilung kennen wir von vielen erzählenden Textsorten, wie beispielsweise der Sage. Aber auch früher im Deutschunterricht haben wir auf diese dreiteilige Gliederung zurückgegriffen, wenn wir Interpretationen schreiben sollten.

Die Einleitung

Die Einleitung hat immer die Aufgabe, in einen Text einzuleiten. Das tut sie auch im Märchen. Sie stellt die handelnden Personen und den Schauplatz vor und gibt Hinweise auf den bevorstehenden Konflikt, der ja ebenfalls typisch für Märchen ist.

Schauen wir uns das ganze in der Grimm-Fassung von Rotkäppchen an. Darin heißt es: Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Wege ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in allen Ecken herum!

Die Einleitung stellt uns zunächst die Hauptfigur vor. Wir erfahren, dass Rotkäppchen ein liebes kleines Mädchen ist, das seine kranke Großmutter besuchen soll. Wir lernen außerdem die Familienkonstellation kennen und bekommen den Schauplatz des Märchens vorgestellt: den Wald. Der Konflikt wird hier ebenfalls bereits angedeutet, denn die Warnung der Mutter, Rotkäppchen solle nicht den Weg verlassen, lässt den Leser oder die Leserin bereits erahnen, dass Rotkäppchen genau das wahrscheinlich nicht tun wird.

Der Hauptteil

Im Hauptteil spitzt sich der Konflikt zu. Dies geschieht durch das Aufeinandertreffen der Hauptfigur mit ihrem Gegenspieler oder ihrer Gegenspielerin. Dies stellt den Protagonisten oder die Protagonistin vor schwierige, oft unlösbar scheinende Aufgaben, die sie alleine oder mit Hilfe anderer lösen muss.

Bezogen auf unser Beispiel bedeutet das: Rotkäppchen trifft auf den Wolf, der als etablierte Verkörperung des Bösen Gefahr für das Mädchen bedeutet. Er konfrontiert Rotkäppchen mit dem Konflikt: Er führt es sowohl wörtlich als auch metaphorisch vom Weg ab, indem es ihm verrät, was es vor hat und wo seine Großmutter wohnt. Der Spannungsbogen steigt und findet seinen Höhepunkt darin, dass der als Großmutter verkleidete Wolf das Rotkäppchen verschlingt.

Der Schluss

Im Schlussteil des Märchens löst sich der Konflikt auf. Typisch für die meisten Märchen kommt es hier zum Happy End, bei dem das gute belohnt und das Böse bestraft wird. So ist es auch bei Rotkäppchen: Der Jäger rettet Großmutter und Rotkäppchen, der Wolf bekommt seine Strafe. Wir erfahren sowohl, welches Schicksal der Bösewicht erleidet, als auch, welche Zukunft den Helden oder die Heldin erwartet. Impliziert ist zudem meist noch die Moral, die mal mehr, mal weniger deutlich formuliert wird.

In Perraults Version von Rotkäppchen, die wir euch in unserer Märchenstunde Folge 66 eingelesen haben, heißt es: Rotkäppchen aber wich nie wieder vom geraden Wege ab, und der Großmutter hatten der heilsame Schreck und der Aufenthalt im warmen Leibe des Wolfes sehr gut getan, daß sie nie wieder den Schnupfen bekam. So wurde beiderseitig die Unschuld gerettet. Damit aber auch die Tugend belohnt wurde, trank der Jäger allen Wein aus, den Rotkäppchen mitgebracht hatte.

Ein genauerer Blick: Der fünfteilige Aufbau von Märchen

Der Aufbau eines Märchens ist somit ziemlich simpel. Doch wie wir im Podcast immer wieder feststellen, lohnt sich auch hier wieder ein genauerer Blick. Denn er zeigt uns: Es steckt doch etwas mehr im Märchen. Denn wenn wir die einzelnen Handlungsschritte eines Märchens betrachten, so ergibt sich daraus eher eine fünfteilige Erzählstruktur, die an das klassische Drama erinnert und einen klareren Spannungsbogen hat:

  1. Einleitung/Expostion
  2. Steigende Handlung
  3. Höhepunkt
  4. Fallende Handlung
  5. Schluss

1. Einleitung oder Exposition

Die Exposition führt in die Geschichte ein. Sie stellt den Protagonisten oder die Protagonistin vor und zeigt, in welchen Verhältnissen er oder sie lebt. Der Leser oder die Leserin wird so mit dem Setting vertraut gemacht und kann im weiteren Verlauf der Handlung nachvollziehen, warum es zum Konflikt kommt.

2. Die steigende Handlung

Die steigende Handlung entwickelt den Konflikt. Der Leser oder die Leserin spürt, dass dieser Konflikt auf einen Höhepunkt zulaufen wird. Im Falle unseres Rotkäppchens besteht die steigende Handlung aus seinem Zusammentreffen mit dem Wolf. Er bringt Rotkäppchen dazu, genau das zu tun, wovor die Mutter es gewarnt hat. Dass er sich auf den Weg zur Großmutter macht, deutet den bevorstehenden Höhepunkt des Märchens an, denn der Leser oder die Leserin weiß, dass etwas Schlimmes passieren wird.

Ein anderes anschauliches Beispiel für die steigende Handlung im Märchen ist Schneewittchen. Hier besteht sie daraus, dass die Stiefmutter Schneewittchen zwei Mal zu töten versucht: Einmal mit dem Kamm, einmal mit dem Mieder. Nach dem der zweite Versuch fehlgeschlagen ist, steuert das Märchen auf seinen Höhepunkt zu. Am Ende der steigenden Handlung weiß der Leser oder die Leserin: ein drittes Mal wird Schneewittchen nicht davonkommen.

3. Der Höhepunkt

Hier entfaltet sich der Konflikt und die Spannung ist auf ihrem Höhepunkt. Rotkäppchen trifft auf den als Großmutter verkleideten Wolf und wird gefressen. Schneewittchen beißt in den vergiftete Apfel und fällt tot zu Boden. Dornröschen sticht sich mit der Spindel in den Finger und erfüllt die Prophezeiung der bösen Fee. Der Höhepunkt im Märchen bedeutet für den Held oder die Heldin stets die maximale Katastrophe.

4. Die fallende Handlung

Die Katastrophe ist eingetreten, das Ende scheint klar. Die fallende Handlung zögert dieses Ende hinaus, es wird noch einmal Spannung aufgebaut. Bei Rotkäppchen ist dieses Ereignis das Auftauchen des Jägers.

5. Der Schluss

Im Schlussteil des Märchens löst sich der Konflikt endgültig auf. Meistens bedeutet das: Happy End. Es gibt aber auch Märchen, die ein tragisches Ende nehmen können, denken wir zum Beispiel an Andersens „Der Tannenbaum“ oder „Der eigensüchtige Riese“ von Oscar Wilde.

Der Aufbau des Märchens im Überblick

GliederungErklärungBeispiel
EinleitungEinführung in die HandlungRotkäppchen wird vorgestellt.
steigende HandlungEntwicklung des Konflikts Rotkäppchen trifft auf den Wolf.
Höhepunktvolle Entfaltung des KonfliktsDer Wolf frisst Rotkäppchen.
fallende HandlungDas Ende wird hinausgezögert.Der Jäger taucht auf.
SchlussDer Konflikt löst sich auf.Wolf tot, alles gut.

Aufbau und Erzählstruktur von Märchen: Wie eine Schablone

Der hier erläuterte Aufbau lässt sich auf nahezu jedes Märchen anwenden. Er ist wie eine Schablone, die auf Volks- wie Kunstmärchen übertragbar ist, und der eine wichtige Funktion zukommt. Denn die Erzählweise des Märchens trägt dazu bei, die Aussageabsicht der Geschichte zu transportieren. Und damit sind wir dann doch wieder bei einer gewissen Komplexität angelangt. Denn das Märchen macht damit das, was jedes literarische Werk tut: Es verschmilzt Form und Inhalt zu einer untrennbaren Einheit, die wie ein Zahnrad ineinandergreift.

Die formale Ausgestaltung eines literarischen Werkes ist, egal ob Gedicht, Kurzgeschichte oder Roman, niemals zufällig gewählt, sondern steht immer im Zusammenhang mit dem Inhalt. Neben Inhalt und Sprache macht somit auch die Form das Märchen zum Märchen.

Mehr zum Thema Rotkäppchen und der Erzählstruktur von Märchen könnt ihr in unserer Märchenpott-Folge 67 „Peep“ hören:

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Bildnachweis: Carl Larsson artist QS:P170,Q187310, Carl Larsson – Little Red Riding Hood 1881, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons