Immer wieder sprechen wir im Märchenpott von der „epischen Textsorte Märchen“. Doch was bedeutet das eigentlich? Hier haben wir euch alles Wichtige rund um die literarische Gattung der Epik und ihrer Merkmale zusammengestellt.
Epik-Merkmale: auch im Märchen zu finden
Wenn wir uns mit Märchen beschäftigen und uns fragen „Was sind Märchen?“, werfen wir unseren Blick auf eine bestimmte Literaturform, die durch spezifische Merkmale gekennzeichnet ist. Typische Märchen-Merkmale sind zum Beispiel die Verwendung von Stereotypen, die Personifizierung von Tieren und Pflanzen oder der Konflikt, den die Hauptfigur lösen muss. Als Textsorte gehört das Märchen mit seinen typischen Merkmalen einer bestimmten Gattung an: der literarischen Gattung der Epik. Sie ist als eine Art Oberkategorie zu verstehen, in die alle Textsorten eingeordnet werden, die epische Merkmale aufweisen. Welche Merkmale das sind und welche Textsorten sonst noch zur literarischen Gattung der Epik gehören, lest ihr hier.
Definition: Das ist Epik
Grundsätzlich lassen sich alle Texte in zwei Kategorien einteilen: in die fiktionalen oder in die non-fiktionalen Texte. Nicht-fiktionale Texte, auch faktuale Texte genannt, sind dazu da, Fakten und Informationen wiederzugeben. Sie hegen keinen literarischen Anspruch und sind typische Alltagstexte: Gebrauchsanweisungen, Kochrezepte oder der Verlauf des WhatsApp-Chats. Zeitungsartikel, Berichte und Reportagen gehören ebenfalls dazu. Zwar haben all diese Textarten unterschiedliche Ziele und Funktionen, eines haben sie als nicht-fiktionale Texte aber gemeinsam: Sie beziehen sich immer auf die Wirklichkeit.
Anders ist das bei fiktionalen Texten. Sie erschaffen ihre eigene Wirklichkeit und lassen sich in drei Gattungen unterteilen: Epik, Dramatik und Lyrik. Die Epik ist die erste dieser drei großen literarischen Gattungen. Der Begriff leitet sich vom griechischen „epos“ ab, bedeutet „Wort“ oder „Erzählung“ – und benennt damit direkt ein wesentliches Merkmal der Epik. Denn allen epischen Texten ist gemein, dass sie einen Erzähler haben.
Diese Epik-Merkmale gibt es
Durch ihre charakteristischen Merkmale lassen sich epische Texte sehr leicht von lyrischen oder dramatischen Texten unterscheiden. Denn Epik-Merkmale gibt es nur in der Epik und in keiner anderen literarischen Gattung.
Epische Texte…
- … haben immer einen Erzähler.
- … verwenden bestimmte Erzähltechniken.
- … sind fließende Texte.
- … haben meist eine fiktionale Handlung.
- … sind häufig im Präteritum, also in der Vergangenheit, verfasst.
- … nutzen eine ungebunde Sprache, die als Prosa bezeichnet wird.
Auch im Märchen könnt ihr diese typischen Epik-Merkmale finden.
Der Erzähler
Epische Texte sind erzählende Texte, das heißt: Sie brauchen einen Erzähler, der das Geschehen schildert. Das tut er aus einer bestimmten Erzählperspektive, auch Erzählverhalten genannt. Abgesehen von der Perspektive nimmt der Erzähler eines epischen Textes zudem immer auch eine bestimmte Rolle ein. Diese kann auktorial, also allwissend, personal oder neutral sein. Eine Sonderform des personalen Erzählers ist der Ich-Erzähler.
Jeder dieser Erzähler hat seine ganz eigene Art, eine Geschichte zu erzählen und beeinflusst so auch, wie wir als Lesende das Erzählte wahrnehmen. Ein und dieselbe Geschichte aus Sicht eines auktorialen Erzählers und eines Ich-Erzählers erzählt, verändert unsere Perspektive auf die Geschichte komplett. Denn der auktoriale Erzähler ist allwissend und kennt die Gedanken und Gefühle aller Figuren in der Geschichte. Außerdem kennt er Vergangenheit und Zukunft und kann sich durch Andeutungen oder Kommentare direkt an den Leser oder die Leserin wenden. Der Ich-Erzähler schildert die Geschichte aus der Ich-Perspektive und vermittelt den Lesenden somit eine sehr eingeschränkte und subjektive Sicht des Geschehens. Dafür ermöglicht er die größtmögliche Identifikation mit einer literarischen Figur, da es zwischen ihr und dem Leser oder der Leserin keine Distanz mehr gibt.
Erzähltechniken
Texte haben immer das Ziel, eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Die literarischen Gattungen stellen den zu ihnen gehörenden Textsorten dafür verschiedene Instrumente zur Verfügung. Autoren und Autorinnen epischer Texte können auf verschiedene Erzähltechniken zurückgreifen.
Zu diesen Erzähltechniken gehören unter anderem:
- die direkte und die indirekte Rede
- der Stream of consciousness (Bewusstseinsstrom), der Gedanken und Gefühle eines Charakters ohne Einwirken des Erzählers aneinandereiht, wie es beispielsweise bei einem Inneren Monolog der Fall ist.
- das Erzähltempo, das die Geschwindigkeit festlegt, in der die Geschichte erzählt wird. Es setzt sich aus Erzählzeit (Zeit, die ihr zum Lesen benötigt) und erzählter Zeit (Zeit, die in der Geschichte vergeht) zusammen und kann in drei Formen auftreten: Zeitraffung, Zeitdeckung und Zeitdehnung.
Zeitdehnung | Die Erzählzeit ist deutlich länger als die erzählte Zeit. Das Lesen dauert also länger als das Geschehen in der Geschichte. |
Zeitdeckung | Erzählzeit und erzählte Zeit sind gleich lang. Die Zeit, die ihr zum Lesen braucht, ist also ungefähr identisch mit der Zeit, in der sich das Geschehen abspielt. |
Zeitraffung | Die Erzählzeit ist deutlich kürzer als die erzählte Zeit. Die Zeit zum Lesen ist also deutlich kürzer als die Zeitspanne, in der das Geschehen abläuft. |
Schreibstil
Epische Texte sind meist in Prosa verfasst. Prosa bezeichnet die ungebundene Form der Sprache, also eine Sprache, die nicht durch formale Besonderheiten gekennzeichnet sind. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu lyrischen und dramatischen Texten, die beide in gebundener Sprache verfasst werden. Das erkennt ihr daran, dass zum Beispiel lyrische Texte wie Gedichte eine Versform sowie Metrum und Reimschema aufweisen. Epische Texte sind nicht an formale Vorgaben geknüpft und begegnen euch auch immer wieder im Alltag: Gebrauchsanweisungen oder Kochrezepte sind ebenfalls Prosatexte.
Fiktionalität
Wie eingangs bereits erläutert, gehören die drei literarischen Gattungen zur Kategorie der fiktionalen Texte. In der Folge bedeutet das: Epische Texte sind immer ausgedacht. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch einen realen Bezug haben können. Autor*innen können durchaus auch autobiografische Erlebnisse in ihre Geschichte einfließen lassen. Die Darstellung dieser Ereignisse ist aber immer fiktional.
Zeitform
Die meisten epischen Texte sind in der Vergangenheitsform, dem sogenannten Präteritum verfasst. Das gilt aber nicht für alle Texte. Es gibt inzwischen auch viele epische Texte, die komplett im Präsens verfasst wurden.
Epische Merkmale am Beispiel Märchen
Wenn wir nun einen Blick auf die Textsorte Märchen werfen, können wir an ihr die Epik-Merkmale beispielhaft nachvollziehen.
1. Der Erzähler
Alle Märchen haben einen Erzähler, der sich meist neutral im Hintergrund hält, denn im Märchen geht es nicht darum, die Gefühle und Gedanken einer Figur ausführlich darzustellen. Gerade im Kunstmärchen begegnet uns häufig aber auch ein auktorialer Erzähler, der das Geschehen kommentiert oder sich an die Leserschaft wendet. Ein Beispiel dafür ist der Schlusssatz aus Andersens Märchen „Das Unglaublichste“ (das ihr im Märchenpott in Folge 56 hören könnt): „Nicht ein Neider war da – ja, das war das Unglaublichste!“
2. Die Erzähltechniken
Im Märchen finden wir direkte wie indirekte Rede und auch ein Erzähltempo, bei dem die Erzählzeit meist kürzer ist als die erzählte Zeit. Oder anders gesagt: In den meisten Märchen kommt die Zeitraffung zum Einsatz, bei der die Zeit, die in der Geschichte vergeht länger ist als die Zeit, die man zum Lesen benötigt.
3. Schreibstil
Märchen verwenden eindeutig Prosa. Verse oder Reime finden wir nur da, wo Märchen bewusst Gedichte oder Lieder einbauen. Das Märchen selbst ist aber immer ein fleißender Text.
4. Fiktionalität
Märchen spielen in einer erfundenen Welt. Diese ist durch die übernatürlichen Elemente, die wir typischerweise darin finden, leicht als fiktional zu erkennen.
5. Die Zeitform
Die meisten Märchen sind im Präteritum verfasst. Manche Märchen halten diese Zeitform nicht immer stringent durch und springen auch mal ins Präsens, insgesamt aber ist die überwiegende Zeitform, in der Märchen erzählt werden, die Vergangenheit.
Formen der Epik
Es gibt verschiedene epische Textformen. Sie weisen die typische Merkmale der Epik auf, unterscheiden sich aber durch spezifische, ihnen eigene Merkmale voneinander. Aus diesem Grund wird auch unter epischen Texten eine Unterteilung vorgenommen zwischen:
- Großformen
- mittleren Formen
- epischen Kleinformen
Epische Großformen
Das bekannteste Beispiel für eine epische Großform ist der Roman. Und dieser kann durchaus große Formen annehmen, denn es gibt Romane, die über tausend Seiten lang sind. Der Länge sind hier keine Grenzen gesetzt.
Neben dem Roman zählt auch das Epos zu den epischen Großformen. Es erzählt von Helden und Göttern und stammt aus der Antike.
Mittlere epische Formen
Deutlich kürzer geht es bei den mittleren epischen Formen zu. Zu ihnen gehören zum Beispiel Novellen und Erzählungen, die in der Regel um die hundert Seiten lang sind.
Epische Kleinformen
Epische Kleinformen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie kurz sind. Märchen sind eine epische Kleinform, aber auch Sagen, Fabeln, Parabeln, Anekdoten oder Kurzgeschichten.
Epische Textsorten im Überblick
Hier findet ihr noch einmal die epischen Textsorten im Überblick:
Großformen | Romane, Epos, Saga |
mittlere Formen | Erzählung, Novelle |
Kleinformen | Märchen, Kurzgeschichte, Anekdote, Kalendergeschichte, Schwank, Verserzählung, Essay, Idylle, Sage, Legende, Volksballade, Fabel, Parabel, Gleichnis |
Kürzestformen | Sprichwort, Aphorismus |
Die Epik-Merkmale im Überblick
- Märchen sind fiktionale Texte und gehören zur Gattung der Epik.
- Die Epik ist vor Dramatik und Lyrik die erste der drei literarischen Gattungen.
- Sie umfasst alle erzählenden Texte.
- Typisch für erzählende Texte ist, dass sie einen Erzähler haben.
- Dieser nimmt eine bestimmte Erzählperspektive ein und kann auktorial, personal oder neutral sein.
- Weitere Merkmale epischer Texte sind ihre Fiktionalität, der Einsatz verschiedener Erzähltechniken und die Verwendung von Prosa.
- Die epischen Formen gliedern sich in Kleinformen, mittlere Formen und Großformen.
- Märchen gehören zu den epischen Kleinformen.