Wir kennen es aus zahlreichen Märchen: Die Hauptfigur begibt sich auf eine lange Reise, auf der sie mehrere Prüfungen bestehen und sich beweisen muss. Dies wird als Suchwanderung bezeichnet. Was das genau ist und warum die Suchwanderung in so vielen Märchen zu finden ist, erfahrt ihr hier.
Die Suchwanderung: der Weg zur Erlösung
In unserer Märchenkunde „Von Liebe, Opfern und selbstlosen Taten“ (Folge 59) beschäftigen wir uns ausführlich mit dem Thema „Erlösung im Märchen“. Es ist ein Motiv, das in verschiedenen Ausprägungen in einer Vielzahl von Märchen vorkommt und somit als ein typisches Narrativ dieser Textsorte gelten kann. Im engen Zusammenhang mit dem Motiv der Erlösung steht die sogenannte Suchwanderung. Sie ist der Weg, den die Hauptfigur beschreiten muss, um am Ende Erlösung zu finden oder zu geben. Hier erklären wir euch, was die Suchwanderung im Märchen ist und welche Funktion sie hat.
Defintion: die Suchwanderung im Märchen
Unter einer Suchwanderung versteht man im Märchen eine lange Reise oder Wanderschaft, die die Hauptfigur auf sich nehmen muss, um eine Person oder einen besonderen Gegenstand zu suchen. Ihr Weg führt sie dabei durch gefährliche, unwirtliche Gegenden, die zum Teil auch über das Irdische hinausgehen können. So muss die Schwester in „Die sieben Raben“ zum Beispiel bis zu Sonne, Mond und den Sternen wandern.
Mit der Wanderung allein ist es aber nicht getan. Die Suchwanderung hält für den Held oder die Heldin viele Schwierigkeiten bereit, die er oder sie meistern muss, obwohl sie unlösbar scheinen. Die Suchwanderung im Märchen ist also immer mit bestimmten Prüfungen verknüpft, bei denen die Hauptfigur ihre moralische Festigkeit beweisen muss. Soll heißen: Sie muss zeigen, dass sie es auch wirklich will. Manchmal findet sie dabei Unterstützung in Form von oft übernatürlichen Helfern oder Helferinnen oder sie erwirbt Gegenstände, die ihr selbst übernatürliche oder magische Fähigkeiten verleihen. Kurz vorm Ende der Suchwanderung erfolgt oft noch ein retadierendes Moment: der Held oder die Heldin hat das Ziel seiner oder ihrer Suche zwar gefunden, erst nach Bestehen einer letzten, besonders herausfordernden Prüfung kann er oder sie dieses Ziel aber auch erreichen. Am Ende einer Suchwanderung steht dann eine Form der Erlösung.
Arten der Suchwanderung
Es gibt verschiedene Arten der Suchwanderung:
- Suche nach dem Ehepartner oder der Ehepartnerin
- Suche nach Geschwistern
- Suche als Auftrag
1. Die Suche nach dem Ehepartner oder der Ehepartnerin
Bei der Suche nach dem Ehepartner oder der Ehepartnerin handelt es sich um die häufigste Form der Suchwanderung im Märchen. Auslöser ist meist der Bruch eines Tabus oder die Bosheit einer anderen Person, beispielsweise der Stiefmutter oder der bösen Stiefschwestern. Das führt dazu, dass einer der Gatt*innen in eine eigene, ferne Welt verschwindet, aus der er oder sie nicht allein herauskommt. Märchen mit dieser Form der Suchwanderung lassen sich inhaltlich oft in zwei Teile teilen: den Teil vor dem Tabubruch und dem Teil danach.
Verbunden ist diese Art der Suchwanderung häufig mit dem Motiv der falschen Braut: Der Partner oder die Partnerin wird zwar gefunden, allerdings erkennt er/sie ihren Retter oder seine Retterin nicht als seinen/ihren Gatt*in. Am Ende erfolgt dann aber die Erlösung und der Hochzeit steht nichts mehr im Wege.
2. Die Suche nach Geschwistern
Eine weitere Form der Suchwanderung, die ebenfalls häufig in Märchen zu finden ist, ist die Suche nach verzauberten Geschwistern. Dabei ist es fast immer ein Mädchen, das seine oft in Tiere verwandelten Brüder finden muss. Auslöser dieser Art der Suchwanderung ist, dass die Schwester von dem Fluch, der über ihre Geschwister gelegt wurde, erfährt, sich daran die Schuld gibt und sich auf einen Bußgang begibt. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist ebenfalls das Märchen „Die sieben Raben“. Es zeigt uns außerdem: Die Schwester muss persönliche Opfer bringen (in „Die sieben Raben“ schneidet sie sich ihren Finger ab), damit sie die Brüder erlösen kann.
3. Die Suche als Auftrag
Die dritte Form der Suchwanderung erfolgt auf einen Auftrag hin. Typisch ist hier die Variante von drei Brüdern, von denen dem Jüngsten gelingt, woran die anderen beiden vor ihm gescheitert sind. Unterstützung bekommt er von übernatürlichen Helfern*innen, die ihm entweder direkt zu Hilfe kommen oder ihm nützliche Zaubergegenstände schenken. Neben dem gesuchten Objekt findet er dann meist noch die schöne Köngistochter und wird mit wertvollen Geschenken belohnt.
Funktion der Suchwanderung
Die Suchwanderung im Märchen erfüllt verschiedene Funktionen:
- Sie ist Handlungsträger, da sie den Großteil der Handlung ausmacht.
- Sie ist der Weg zur Erlösung und damit zum Happy End.
- Sie zeigt, dass auch schwierige, unlösbar scheinende Herausforderungen zu bewältigen sind.
- Sie bildet die menschliche Suche nach Glück ab, die oft ebenfalls beschwerlich ist.
Darüber hinaus ist die Suchwanderung meist auch als Reifungsprozess der Hauptfigur zu verstehen, was sich unter anderem daran zeigt, dass der Held oder die Heldin stets allein auf Reisen ist und trotz möglichen Helfer*innen die Strapazen der Wanderung allein ertragen muss. Außerdem muss er/sie in fremde Welten aufbrechen, die im Märchen oft durch eine Pforte in die „Anderwelt“ markiert werden. Häufig vorkommende Elemente sind in diesem Zusammenhang der Glasberg oder der Brunnen.
Insgesamt ist die Suchwanderung im Märchen also immer eine beschwerliche Reise, die den Helden oder die Heldin auf die Probe stellt, ihn oder sie reifen lässt und Grundvoraussetzung für Erlösung ist. Als Symbol für die menschliche Suche nach Glück teilt sie den Leser*innen zudem mit: Das Glück ist nicht immer leicht zu finden, aber auch schwierige Sitationen können überwunden werden.