Was passiert, wenn wir alte Märchen neu erzählen? Sie werden bunter und diverser, zeigt das Märchenbuch „Märchenland für alle“. Warum wir dieses Buch empfehlen und warum Märchen so gut dafür geeignet sind, diverse Geschichten zu erzählen, lest ihr hier.
Märchenland für alle: das etwas andere Märchenbuch
Was ein Märchenbuch für politische Debatten und Kontroversen auslösen kann, hat 2021 das ungarische Märchenbuch „Märchenland für alle“ auf erschreckende Weise gezeigt. Erschreckend deswegen, weil uns die Reaktionen des ungarischen Orbán-Regimes einmal mehr vergegenwärtigen, dass es noch immer ein weiter Weg ist hin zu einer Welt frei von Diskriminierung, Ausgrenzung und Hass.
Die ungarische Regierung nahm das Erscheinen des Buches zum Anlass, homo- und transphobische Gesetze einzuführen. Da sie es als Angriff auf traditionelle Familienwerte versteht, sah sie darin sogar eine Rechtfertigung, das Buch öffentlich zu schreddern.
Alte Märchen divers erzählt
Doch was macht das Buch eigentlich? Es erzählt alte Märchen neu. Tatsächlich ist es eigentlich nicht mehr als das. Und doch ist gerade das so erwähnenswert. Denn „neu“ bedeutet hier „divers“. So gibt es zum Beispiel einen schwulen Prinzen, ein Trans-Bambi auf der Suche nach seiner wahren Identität und einen Hasen mit drei Ohren.
„Es sollte für jeden Menschen selbstverständlich sein, das eigene authentische Ich leben zu können, ohne sich zu verstellen“, erklärt Anna-Beeke Gretemeier, die Chefredakteurin des Stern im Vorwort des Buches. Dafür braucht es diverse Rollenbilder, die Orientierung schaffen und zeigen: Unsere Welt besteht nicht nur aus schönen Prinzessinnen, die von einem nicht weniger schönen Prinzen gerettet werden. Vielmehr gibt es ganz unterschiedliche Lebensentwürfe, die in unserer Wahrnehmung selbstverständlich werden müssen, ganz unabhängig davon, was für ein Leben wir selber führen.
„Wir alle brauchen Märchen“
Gerade Märchen sind dafür hervorragend geeignet, auch wenn wir sie im ersten Moment eher mit stereotypen Rollenbildern in Verbindung bringen. Das hat mehrere Gründe. Einer davon findet sich im Vorwort des Herausgebers. Darin heißt es: „Wir alle brauchen Märchen. Solche, die uns in ferne Zeiten und Gegenden führen, wo die Helden auf geflügelten Pferden fliegen, sich aus der Gefangenschaft von Feen befreien oder gegen Drachen kämpfen, und dabei doch so sind wir.“
Märchen vermitteln Träume, Erfahrungen und Lehren und finden sich in jeder Gesellschaft bis zurück ins Altertum. Dabei sind sie stets im Wandel, denn Märchen leben von ihrem Erzählcharakter. So passen sie sich ihrem zeitgeschichtlichen Kontext an. Sie sind eben nicht statisch, sondern reagieren auf die Begebenheiten ihrer Zeit. Sie wollen und sollen neu erzählt und interpretiert zu werden.
Mehr Identifikationspotenzial
Das funktioniert unter anderem auch deshalb, weil die Textsorte Märchen so einfach ist. Es geht ihr nicht um eine großangelegte Charakterstudie. Vielmehr verarbeiten Märchen Themen wie Liebe, Neid oder Gier, zeitlose Themen also, die die Menschen immer schon beschäftigt haben und weiterhin beschäftigen werden. Ob diese Themen mittels People of Colour, eines homosexuellen Prinzen oder eines dreiohrigen Hasens vermittelt werden, spielt für diese Themen überhaupt keine Rolle.
Aber es spielt eine Rolle für jene, die diese Märchen erzählen und erzählt bekommen, denn Vielfalt im Märchen schafft eine neue Bandbreite an Identifikationspotenzial. Und wenn sich ein Mädchen mal nicht mit der schönen Prinzessin, sondern mit dem Trans-Bambi identifiziert, ist viel gewonnen: für das Kind, für unsere Gesellschaft und für die Vielfalt, die dadurch für alle selbstverständlicher wird.
Über das Buch
Das Buch wurde 2022 vom Stern in Deutschland veröffentlicht und berichtet in 17 Geschichten von diversen Held*innen. Trotz des Boykottversuches in Ungarn hat sich das Buch zu einem Bestseller entwickelt und wurde in die „White Ravens“ 2021 aufgenommen, eine Empfehlungsliste der Internationalen Jugendbibliothek, die jährlich 200 hochwertige internationale Kinder- und Jugendbücher herausstellt.
Herausgeber des Buches ist die Labrisz Lesbian Association, die sich in Ungarn seit über 20 Jahren dafür einsetzt, auf die Diskriminierung weiblicher sexueller Minderheiten aufmerksam zu machen. Für das Buch hat die Organisation nicht nur auf etablierte Autor*innen zurückgegriffen, sondern auch einen Wettbewerb für angehende Schriftsteller*innen ausgeschrieben – acht von ihnen haben es mit ihren Märchenfassungen in das Buch geschafft. Die anderen neun Erzählungen stammen von bekannten Autor*innen.
Vielfalt auch literarisch spürbar
Darüber hinaus macht sich die Vielfalt dieses Buches auch literarisch bemerkbar. Neben Märchen in Prosa finden sich in dem Buch auch eines in Gedichtform sowie ein bearbeitetes Theaterstück. Zu den Ausgangstexten gehören neben bekannten Märchen eine Geschichte aus der griechischen Mythologie, ein irisches Volksmärchen und ein klassischer Märchenroman.
Auch wenn das „Märchenland für alle“ Eltern dabei unterstützen möchte, Kindern beizubringen, dass unsere Gesellschaft vielfältig ist: Wie so viele Märchenbücher so ist auch dieses kein reines Kinderbuch. Denn um Kindern zu zeigen, dass Vielfalt gut und richtig und wichtig ist, müssen wir das erst einmal selbst verstehen. Kinder sind unvoreingenommen und offen. Diese Eigenschaften verlieren sie erst durch eine Gesellschaft, die das eben nicht ist.
➛ Mehr zum Buch und zum Thema „Diversität im Märchen“ hört ihr in unserer Folge 15 „Die Diversity Challenge“ auf Spotify und Co.