Hintergründe

Der Tannenbaum: Andersens bittersüßes Weihnachtsmärchen  

Tannebaum Szene Wald mit Hase

Eines der bekanntesten Märchen zur Weihnachtszeit ist „Der Tannenbaum“ von Hans Christian Andersen. Ein wunderschönes Weihnachtsmärchen – doch wie bei Andersen üblich mit bittersüßer Botschaft. Wir haben uns das Märchen näher angesehen.

Dass Märchen und Weihnachten für uns einfach zusammengehören, haben wir euch bereits in unserem Beitrag über „Unsere liebsten Weihnachtsmärchen“ erklärt. Doch wenn wir über Weihnachtsmärchen sprechen, darf ein Märchen dabei nicht unerwähnt bleiben: „Der Tannenbaum” von Hans Christian Andersen.  

In unserem Märchenpottcast haben wir uns mit diesem Märchen gleich zwei Mal beschäftigt. In Folge 02 „Der Tannenbaumhaben wir es als Hörspiel eingelesen. In Folge 03 „Märchen für wenn et kalt is sprechen wir unter anderem darüber, was das Märchen so besonders macht. Das Wichtigste dazu haben wir euch hier noch einmal zusammengefasst. 

Der Tannenbaum: Darum geht’s 

Falls ihr euch unsere zweite Folge noch nicht angehört habt oder einfach nochmal eine kurze Zusammenfassung braucht: Im Märchen vom Tannenbaum geht es um das unaufhörliche Sehnen eines Tannenbaums nach mehr. Was er in seinem Leben hatte, erkennt er erst, als es zu spät ist. 

Zunächst ist der Tannenbaum klein und steht im Wald. Dort beobachtet er all die großen, stolzen Bäume, die Jahr für Jahr gefällt und fortgebracht werden. Eines Tages ist es auch bei ihm soweit. Er wird als Weihnachtsbaum ausgewählt und gefällt. Doch auch wenn die Trennung vom Wald schwerfällt, ist er voller Vorfreude. Diese scheint sich zu erfüllen, als er prächtig geschmückt am Weihnachtsabend zum strahlenden Mittelpunkt des Festes wird. Der Zauber verfliegt jedoch schnell wieder: Als die Kinder ihn geplündert haben, beachtet ihn niemand mehr. Umso mehr lauschen sie der Geschichte von Klumpe-Dumpe, die der Großvater erzählt. Auch der Tannenbaum hört die Geschichte von Klumpe-Dumpe, der die Treppe hinunterfiel und die Prinzessin bekommt. Der Baum zieht daraus die falschen Lehren für sein eigenes Leben und glaubt, ihm würde es auch so ergehen. Tatsächlich aber landet er auf dem Dachboden und nach einiger Zeit interessieren sich nicht mal mehr die Mäuse und Ratten dort für ihn. Allmählich begreift der Tannenbaum, wie gut er es im Wald gehabt hat, den er so unbedingt hatte verlassen wollen. Als er im Frühling dann ins Freie gebracht wird, hofft er auf einen Neubeginn. Doch während um ihn herum alles in bunten Farben erblüht, muss er erkennen, wie alt er geworden ist. Sein Ende ist gekommen: Er wird zerhackt und verbrannt. Er erkennt, dass er sich hätte freuen müssen, als er es noch konnte. 

 Hintergründe 

Bei dem Märchen von Hans Christian Andersen handelt es sich um ein Kunstmärchen. Das erkennt ihr unter anderem daran, dass der Tannenbaum hier nicht bloß ein Stereotyp ist, sondern als Protagonist der Erzählung eigene Gefühle hat und eine Entwicklung durchmacht. 

Das Märchen selbst wurde erstmals am 21. Dezember 1844 von Andersen in der Buchausgabe Nye Eventyr. Første Bind. Anden Samling (Neue Abenteteur, Erster Band, Zweite Sammlung) veröffentlicht passend zur Weihnachtszeit. Die Veröffentlichung fand übrigens zusammen mit einem anderen sehr bekannten Wintermärchen von Andersen statt: „Die Schneekönigin.“

Aufbau des Märchens 

Betrachtet man den Aufbau des Märchens, fällt auf, dass dieser sehr systematisch ist: Die Erzählung über den Tannenbaum lässt sich in drei Abschnitte gliedern und die Drei ist ja eine typische Zahl, die wir in Märchen finden.  

Im ersten Abschnitt lernen wir als Leser*innen den Baum kennen. Er ist klein, lebt im Wald und sehnt sich danach, groß und prächtig zu sein wie die anderen Bäume. Und er sehnt sich nach einem anderen Leben, will fort und in die Welt hinaus. So fragt er beispielsweise die Schwalben, wie es in der Welt ist und was es dort zu sehen gibt. Im zweiten Abschnitt ist es dann so weit: Er wird vom Tannen- zum Weihnachtsbaum. In dieser Entwicklung liegt auch der Höhepunkt seines Lebens: Er ist der Mittelpunkt, strahlend und schön. Doch nach dieser Wandlung folgt im dritten Abschnitt bereits der nächste Wendepunkt und das Sterben des Tannenbaums beginnt. Es steigert sich vom Vergessen über das Altern bis zum Zerhacken und Verbrennen.  

Der Tannenbaum: Interpretation 

Die zentrale Aussage und Lehre seines Märchens lässt Andersen seinen Tannenbaum am Ende selbst formulieren: „Vorbei! vorbei! Hätte ich mich doch gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei! Vorbei!“ Dieser Erkenntnis, dass Leben zu genießen und damit auch zu leben und nicht immer nach Besserem zu streben und nie zufrieden zu sein, setzt Andersen noch die Aussage „und mit der Geschichte auch; vorbei, vorbei – und so geht es mit allen Geschichten!“ hinterher. Sie verstärkt nicht nur die Bitterkeit, die in der viel zu späten Erkenntnis des Tannenbaums liegt. Vielmehr mahnt sie auch den/die Leser*in direkt: Alles ist vergänglich und irgendwann vorbei. 

Mit dieser Thematik greift Andersen ein sehr menschliches, zeitloses Thema auf und zeigt, wie man in der Hoffnung an die eigene Herrlichkeit die wahre Freude nicht erkennt und sein ganzes Leben ungelebt an sich vorbeiziehen lässt. Deutlich wird das auch daran, dass er der Jugendzeit des Baumes vergleichsweise wenig Erzählzeit einräumt, seinen Höhepunkt, also den Weihnachtsabend, sowie die Zeit auf dem Dachboden aber sehr ausführlich beschreibt. So wirken nicht nur die Irrtümer und sich nicht erfüllenden Hoffnungen schwerer. Auch das eigene Missverhältnis in der Wahrnehmung des Tannenbaums wird so deutlich.

Die Rolle des Tannenbaums 

Auffällig ist, dass der Tannenbaum die einzig denkende Figur des Märchens ist. Der Leser oder die Leserin bekommt so Einblick in seine Gedankenwelt. Eine direkte Identifikation erfolgt dadurch aber nicht, denn die Leser*innen haben dem Tannenbaum gegenüber einen Wissensvorsprung. Anders als er kennen sie das Schicksal eines geschlagenen Baumes nämlich genau. So ist der Tannenbaum hier kein tragischer, sondern eher ein dummer Held, von dem der Leser oder die Leserin schon zu Beginn denkt: „Bleib lieber im Wald, dort hast du es schön.“ 

Zu einer Identifikation mit dem Baum kommt es erst am Ende, als ihn die bittere Erkenntnis trifft, dass er sich hätte freuen sollen, als er noch Gelegenheit dazu hatte. Diese Aussage ist so menschlich und unserem Wesen so vertraut, dass sie zum Nachdenken anregt und auch in uns die Frage aufwirft, ob wir es denn so viel besser machen als der Baum. 

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Bildnachweis Aufmacher: Vilhelm Pedersen, Vilhelm Pedersen, 8Z, ubt, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons