Der Trojanische Krieg, der Phönix aus der Asche oder die christliche Schöpfungsgeschichte – jede Kultur hat ihre Mythen. Doch was genau ist ein Mythos eigentlich? Wir haben es uns angesehen.
Was ist ein Mythos?
Die Geschichte von Ödipus, der seinen Vater tötet und die eigene Mutter heiratet oder die Geschichte des starken Archilles, dem seine Ferse zum Verhängnis wird – einige Geschichten der griechischen Mythologie sind legendär und haben sich mit Begiffen wie „Ödipuskomplex“ oder „Archillesferse“ fest in Sprache und Alltag verankert. Doch was genau ist ein Mythos eigentlich? Verstehen wir darunter nicht eher ein Lügenmärchen? Und was ist der Unterschied zu Märchen, Legenden und Sagen? Im folgenden Text gehen wir diesen Fragen nach.
Definition: Das ist ein Mythos
Formal gehört der Mythos zur literarischen Gattung der Epik. Da Mythen meist als narrative (erzählende) Texte überliefert sind – mit Handlung, Figuren, einem Anfang und Ende –, werden sie in der Literaturwissenschaft in der Regel der Epik zugeordnet – nach Auffassung vieler Wissenschaftler*innen allerdings erst dann, wenn er vom Ritual getrennt wird. Ursprünglich handelt es sich beim Mythos nämlich um keinen literarischen Text, sondern eine mündlich überlieferte, rituell eingebettete Erzählung mit religiöser oder weltdeutender Ausrichtung. Erst vergleichsweise spät wurde er schriftlich festgehalten und damit Teil der Literatur.
Seine Bezeichnung leitet sich aus dem Altgriechischen ab und bedeutet “Laut, Rede, Wort, Erzählung, sagenhafte Geschichte oder Mär”. Dahinter verbirgt sich eine traditionelle, oft symbolische Erzählung, die versucht, zentrale Fragen der Existenz, z. B. Schöpfung, Tod, Götter, Natur, zu erklären. Der Mythos ist meist religiös oder weltanschaulich begründet, handelt von Göttern, Halbgöttern, mythischen Wesen oder Urmenschen und hatte ursprünglich einen Wahrheitsanspruch.
Das Definitionsproblem
Die Definition des Begriffs ist allerdings nicht eindeutig und weicht zum Teil stark voneinander ab. In den verschiedenen Zeiten und Kulturen wird der Mythos ganz unterschiedlich verstanden. So benutzen wir den Begriff heute zum Beispiel auch als eine Bezeichnung für Lügengeschichten. Auch fehlt modernen Mythen die religiöse Legitimation. Im Alltagsverständnis bezeichnet ein „Mythos“ oft eine falsche oder übertriebene Vorstellung, also etwas, das nicht der Wahrheit entspricht, beispielsweise „Der Mythos von Chancengleichheit“. Gemeint ist hier also eine Vorstellung, die sich als Irrglaube herausstellt.
Wir sprechen aber auch von modernen Mythen, beispielsweise dem Mythos Marilyn Monroe. Hier wird einem Menschen, einem Werk oder einer Marke eine stark aufgeladene symbolische Bedeutung, die über die Fakten hinausgeht. Kulturwissenschaftlich, religiös und literarisch gesehen ist der Mythos wiederum eine Erzählung, die tief in einer Kultur verankert ist und uns dabei hilft, das kollektive Bewusstsein einer Gesellschaft zu begreifen und Einblicke in die Werte und Normen einer Kultur zu bekommen.
Funktion eines Mythos
Anders als verwandte Erzählformen wie Märchen, Sage, Legende oder Fabel gilt ein Mythos als eine Erzählung, die Identität, übergreifende Erklärungen oder religiöse Orientierung vermittelt.
Dabei kommt ihm die folgenden Funktionen zu:
Funktion | Erklärung | Fragestellung |
Welterklärung | erklären Naturphänomene, Ursprung von Welt, Mensch, Tieren usw. | Warum gibt es den Tod? Warum bebt die Erde? |
Sinnstiftung und Orientierung | geben moralische, soziale oder religiöse Orientierung | Was ist gut/böse? Woher kommen Schuld, Strafe, Erlösung? |
Legitimation von Macht und Ordnung | Rechtfertigung von Herrschern, Gesetzen oder Institutionen | Der König ist Sohn der Sonne |
Identitätsbildung | stiften gemeinsame Herkunft und kollektive Zugehörigkeit | Aeneas als Gründer Roms: gemeinsamer Ahne |
Ritualgrundlage | Viele Rituale (z. B. Fruchtbarkeitsfeste) basieren auf mythischen Erzählungen. | Viele Rituale (z. B. Fruchtbarkeitsfeste) basieren auf mythischen Erzählungen. |
Mythen sind demnach kollektive Sinnbilder, die in archaischen Gesellschaften das Verständnis von Welt und Mensch formten.
Anthropologische Funktion
Mythen sind nicht bloß Geschichten, sondern wichtige Kulturgüter, die uns viele Einblicke in die Denkweise und die Werte vergangener Zivilisationen geben. Dadurch spielen Mythen auch in der Anthropologie eine entscheidende Rolle, weil sie Aussagen über
- die Werte und Überzeugungen einer Gemeinschaft,
- historische Perspektiven und soziale Strukturen sowie
- rituelle Praktiken und Traditionen
ermöglichen. Mythen sind demnach Werkzeuge, mit denen Gesellschaften ihre Weltanschauung ausdrücken und bewahren.
Kulturelle Funktion
Mythen kommt eine große kulturelle Funktion zu, weil sie nicht bloß alte Geschichten, sondern auch soziale Instrumente sind, die eine Verbindung zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Gemeinschaften schaffen.
Bildungsfunktion
Darüber hinaus sind Mythen auch als didaktische Werkzeuge zu begreifen, die dazu beitragen, komplexe Sachverhalte verständlich zu machen und grundsätzliche Werte zu vermitteln.
- Moralerziehung: Durch Geschichten über Helden oder Götter werden moralische Lektionen illustriert.
- Religiöse Lehren: Mythen sind oft mit religiösen Überzeugungen verknüpft und vermitteln spirituelle Prinzipien.
- Kulturelles Wissen: Sie überliefern traditionelles Wissen und historische Ereignisse auf zugängliche Weise.
Um die tiefere Bedeutung und Funktion von Mythen in den jeweiligen Kulturen zu verstehen, gibt es verschiedene Methoden: Die literarische Analyse untersucht den narrativen Stil und die Struktur der Mythen. Die symbolische Analyse versucht, ddie Symbole und ihre Bedeutung innerhalb einer Kultur zu entschlüssen. Die vergleichende Analyse wiederum vergleicht Mythen verschiedener Kulturen, um gemeinsame Themen und Unterschiede zu identifizieren.
Arten von Mythen
Mythen gibt es in verschiedenen Formen und aus unterschiedlichen Zeiten. Deswegen können sie in verschiedene Arten kategorisiert werden:
- Schöpfungsmythen: Erklärungen für die Entstehung der Welt und der Menschheit, wie der biblische Schöpfungsmythos oder die griechische Erzählung von Gaia und Uranus.
- Heldenmythen: Aufregende Abenteuer von Helden, die übermenschliche Aufgaben zu bewältigen haben, wie Herkules und seine zwölf Prüfungen.
- Kosmogonische Mythen: Diese befassen sich mit der Entstehung und der Ordnung des Kosmos, wie der nordische Mythos von Yggdrasil, dem Weltenbaum.
- Eschatologische Mythen: Sie beschäftigen sich mit dem Ende der Welt oder deren Erneuerung, z.B. Ragnarök in der nordischen MYthologie oder die Apokalypse im Christentum.
- Kultur- und Zivilisationsmythen: Wie erlernte der Mensch Ackerbau, Feuer, Sprache?, z. B. Prometheus bringt Feuer; Quetzalcoatl (Azteken) lehrt Maisanbau
Beispiele für bekannte Mythen
Kultur | Mythos | Inhalt/Bedeutung |
Griechisch | Prometheus | bringt den Menschen das Feuer = Kulturstifter |
Nordisch | Ragnarök | Weltuntergang, zyklisches Weltbild |
Indisch | Schöpfung durch Brahma | Welt entsteht aus göttlichem Opfer |
Ägyptisch | Osiris-Mythos | Tod und Wiedergeburt, Ursprung des Totenkults |
Jüdisch-christlich | Adam und Eva | Sündenfall, Ursprung von Schuld und Sterblichkeit |
Mesopotamisch | Gilgamesch-Epos | Suche nach Unsterblichkeit |
Japanisch | Amaterasu | Ursprung des Kaiserhauses, kosmische Ordnung |
Unterschiede zu anderen Textsorten
Auch wenn es einerseits einige Übereinstimmungen mit anderen Textsorten gibt, ist der Mythos andererseits schon deutlich von anderen Textsorten zu unterscheiden:
Textsorte | Inhalt | Wahrheits-anspruch | Figuren |
Mythos | Kosmos, Götter, Weltordnung | Ja | Götter, Urmenschen, Titanen, Helden |
Märchen | Wunder, Gut und Böse, Moral | Ja | Alltagsfiguren, Fabelwesen |
Sage | ortsgebunden, historisch | Teilweise | Helden, Geister, Ahnen |
Legende | Heiligen- oder Wunder-erzählung, oft christlich | Ja | Heilige |
Auf einen Blick: Was ist ein Mythos?
- Ein Mythos ist eine traditionelle Erzählung, die grundlegende Fragen über Ursprung, Götter, Natur, Mensch und Welt beantwortet. Demnach hatte er urspründlich einen Wahrheitsanspruch.
- Mythen haben eine sinnstiftende Funktion: Sie erklären die Welt, vermitteln Werte, legitimieren Ordnungen und stiften kollektive Identität.
- Es gibt verschiedene Arten von Mythen, z. B. Schöpfungsmythen, Göttermythen, Heldenmythen, Kulturmythen und Weltuntergangsmythen.
- Mythen sind kulturübergreifend – sie finden sich in allen Hochkulturen (z. B. griechisch, nordisch, ägyptisch, mesopotamisch) und wirken bis heute in Literatur, Religion und Popkultur weiter.
- Die Definiton des Mythos ist nicht einheitlich. Über die Jahrhunderte gab es unterschiedliche, teils gegensätzliche Definitionen.