Aschenputtel in der Horrorversion: Warum „The Ugly Stepsister“ endlich ein gelungener Märchenhorrorfilm ist, der auch der Textsorte Märchen guttut: Lest hier eine ausführliche Rezension zum neusten Body Horror.
The Ugly Stepsister: Mehr als Disney’s Cinderella
Wenn wir an Aschenputtel denken, dann hat die Mehrheit von uns wahrscheinlich zwei Assoziationen: Disney’s Cinderella und Libuše Šafránková als Aschenbrödel im Märchen- und Weihnachtsfilmklassiker Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Beide Filmadaptionen haben das Bild von Aschenputtel entscheidend geprägt.
Cinderella gehört zur Garde der Disney-Prinzessinnen und wird entsprechend vermarktet. Auch wenn der Zeichentrickfilm bereits aus dem Jahr 1950 stammt und die Darstellung der Frauenrolle nicht mehr zeitgemäß erscheint: Ein zeitloser Klassiker ist Disney’s Cinderella trotzdem.
Der Märchenfilm schlechthin: Aschenbrödel
Das ist auch Aschenbrödel, was neben der liebevollen Ausstattung und der märchenhaften Kulisse vor allem am Drehbuch und Šafránkovás Darstellung des Aschenbrödels liegt. Denn die zum Arbeiten verdammte, ungeliebte Tochter ist hier kein kleines, duldsames Mäuschen, sondern selbstbewusst und frech, ohne auf unangenehme Weise aufmüpfig zu werden. Sie rebelliert und lässt den Prinzen (und Männer generell) oft ziemlich dumm darstehen. Das ist liebenswert, unterhaltsam und emanzipiert, ohne jemals zu übertreiben. Aschenbrödel ist stark und selbstbewusst, hat aber auch ihre traurigen, hilflosen Momente. Sie ist eine Frau, die vieles kann und vieles schafft, aber eben keine Alleskönnerin. Sie ist selbstständig, wird aber nicht als unerschütterliche Einzelgängerin gezeigt, die niemanden braucht.
Kurzum: Aschenbrödel ist ein Beispiel für die Darstellung einer modernen, selbstbewussten Frau, die Identifikationspotenzial bietet, ohne dabei in die unrealistischen Darstellungen heutiger Frauenrollen in Filmen zu verfallen. Aus diesem Grund funktioniert der Film von 1973 noch immer.
Keine Liebesgeschichte
Was Cinderella und Aschenbrödel gemeinsam haben: Sie erzählen beide eine Liebesgeschichte. Ja, es geht auch um Selbstbehauptung, Mobbing und Emanzipation. Aber es geht eben auch um den Prinzen, der den Ausweg aus dieser misslichen Lage verkörpert, es geht um die Liebe als Erlösung. Das führt dazu, dass sich Aschenputtel in unserem Gedächtnis als Liebesgeschichte verankert hat. Der Film The Ugly Stepsister zeigt: Eine Liebesgeschichte ist Aschenputtel ganz und gar nicht.
Vielmehr ist es eine wahre Horrorgeschichte, in der sich der psychologische Schrecken des Märchens wie einen Bandwurm seinen Weg aus den schriftlichen Aschenputtel-Erzählungen heraus an die Oberfläche bahnt und in radikalem Body Horror einen ganz anderen Kern des Märchens freilegt. Einen Kern, der vielleicht viel wahrer ist als das Märchen von der wahren Liebe.
Der beste Horrorfilm 2025?
The Ugly Stepsister ist das Langfilmdebüt der norwegischen Regisseurin Emilie Blichfeldt und wurde vorab bereits als “Bester Horrorfilm des Jahres” gehyped. Gut, wenn es danach geht, müssten wir ziemlich viele ziemlich gute Horrorfilme haben, aber was The Ugly Stepsister angeht: Dieser Hype ist gerechtfertigt und ja, wenn man vergleichen will, braucht dieses Werk auch den Vergleich mit dem wirklich brillanten Body-Horrorfilm The Substance nicht zu scheuen.
Doch der Film braucht diesen Vergleich nicht und kann auch sehr gut für sich alleine stehen – und sprechen. Und das tut er in ebenso märchenhaften wie radikalen Bildern. Achtung an dieser Stelle: Es kann im Laufe der Kritik zu Spoilern kommen.
Märchen werden nicht wahr
Der Film startet, wie man das Märchen kennt oder besser gesagt zu kennen glaubt: Aschenputtel trifft ihren Prinzen und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Doch der rot-rosa Filter lässt bereits erahnen: Es handelt sich hier lediglich um eine Traumsequenz. Und nicht nur das: Schon hier schwingt visuell die Warnung mit, sich nicht in solchen unrealistischen Vorstellungen zu verlieren. Gleichzeitig dürften Märchenfilmkenner*innen sich an den sowjetischen Film “Die feuerrote Blume” aus dem Jahr 1978 erinnert fühlen, der durch einen ähnlichen Filter eine sehr psychedelische Wirkung erzeugt.
So steckt bereits in dieser Anfangssequenz eine ganze Menge drin: Visuell fühlen wir uns unweigerlich an Aschenbrödel erinnert, die gemeinsam mit ihrem Prinzen in ein glückliches Leben reitet. Und wir werden hier als Zuschauer*innen direkt überführt: So schön das alles ist, es ist eben nicht mehr als ein Märchen. Wir wissen von Anfang an, dass die Protagonistin fehlgeleitet ist. Und gleichzeitig teilen wir den Wunsch und die Hoffnung darauf, dass wir vielleicht doch eines Tages auch ein solches Märchen erleben können.
The Ugly Stepsister: die Schlüsselsequenz
Dadurch sind wir direkt ganz nah dran an der Hauptfigur des Films: Elvira. Bei ihr handelt es sich jedoch nicht um Aschenputtel, sondern um eine der beiden Stiefschwestern, die durch die Grimm-Fassung des Märchens vor allem dadurch bekannt sind, dass sie sich die Fersen abschneiden, um in Aschenputtels verlorenen Schuh zu passen. Und genau diese Szene wird zur brachialen Schlüsselsequenz des Films, der von der ersten Minute an kompromisslos auf diesen Höhepunkt zusteuert.
Ein großer Kontrast
Elvira kommt mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester in ihrem neuen Zuhause an. Ihre Mutter heiratet einen deutlich älteren Mann, der seinerseits eine Tochter mit in die Ehe bringt: Agnes. Der Kontrast zwischen beiden ist vom ersten Moment an überdeutlich: Agnes ist schlank, hat langes blondes Haar, ist natürlich schön und trägt ausladende, prinzessinnenhafte Kleider. Elvira wirkt mit ihren Löckchen viel zu sehr zurechtgemacht, ihre Kleider werden durch keine Krinoline gepusht und reichen gerade einmal bis zu den Knöcheln. Außerdem trägt sie eine Zahnspange und wird von ihrer Mutter darauf hingewiesen, deswegen doch bitte nicht zu lachen und den Mund nicht zu weit aufzumachen.
Wer hier die schöne Prinzessin ist und wer die hässliche Stiefschwester, ist somit bereits nach wenigen Einstellungen klar. Auch im Haus bewegt Elvira sich wie ein Fremdkörper, sie kennt diese Pracht scheinbar nicht und ist schon von alltäglichen Gegenständen wie einer Haarbürste fasziniert.
Grandiose Hauptdarstellerin
Lea Myren spielt das so staunend, naiv, hilflos und herzerweichend, dass man Elvira direkt ins Herz schließt. Ihre Figur hat Charakter, löst sich damit also von der stereotypen Erzählweise von Volksmärchen und ermöglicht es, sich mit Elvira zu identifizieren. Wer früher beispielsweise ebenfalls eine feste Zahnspange tragen musste, kann nachfühlen, wie Elvira sich schämt und versucht, diese zu verstecken.
Anlehnung an DEFA-Filme
Blichfeldt erzählt in märchenhaften Bildern, die an DEFA-Filme erinnern: Wir sehen die Kutsche, die durch den Wald fährt, wir sehen Schlösser und rauschende Kleider. Wir bekommen den Titel des Films in geschwungener Schrift präsentiert – und einen Vorspann, der in eindrucksvollen Bildern die Vergänglichkeit von Schönheit zum Ausdruck bringt. Die Regisseurin weiß, dass die Handlung des Märchens bekannt ist und spielt geschickt mit dem Wissensvorsprung der Zuschauer*innen.
Elvira hingegen ist ahnungslos und wird immer mehr in die Realität zurückgeholt. Das beginnt mit der Erkenntnis, dass ihre Mutter nicht wie erwartet in eine reiche Familie eingeheiratet hat. Agnes und ihr Vater sind ebenso arm wie sie – und auch Agnes ereilt nach dem Tod des Vaters die Erkenntnis, dass ihre Stiefmutter über keinerlei finanzielle Mittel verfügt. “Sonst hätte sich Vater mit Menschen wie euch doch nie abgegeben“, sagt sie Elvira ins Gesicht. Wieder bekommt Elvira also das Gefühl, nicht gut genug zu sein.
The Ugly Stepsister: Der soziale Aspekt
Die soziale Komponente ist sehr wichtig für den weiteren Verlauf der Handlung. Während Elvira zunächst noch daran glaubt, dass es eine Lösung gibt, raubt ihre Mutter ihr diese Illusion mit drastischen Worten: “Du denkst, dass es so einfach wäre? Für eine Frau wie mich, mit hängenden Brüsten und zwei nutzlosen Töchtern ist gar nichts einfach.” Darin liegt ein reales Dilemma: Frauen waren auf Männer angewiesen. Sie konnten nicht selbst ihr Geld verdienen und der soziale Aufstieg war nur durch eine Heirat möglich.
Das zeigt uns schon die Grimm-Fassung des Märchens: Aschenputtel überwindet hier den größtmöglichen sozialen Graben und wird von der Dienstmagd zur Königin. Das alles gelingt ihr aber nur durch die Hochzeit. Zu keinem anderen Zeitpunkt eröffnet sich ihr eine andere Möglichkeit. Und das liegt nicht an ihrer Figur, sondern an der damaligen gesellschaftlichen Realität.
Die Rolle der Frauen
Werden Frauen alt, sind sie nicht mehr “vermarktbar”. Dafür steht Elviras Mutter, die zwei Töchter hat, die sie in dieses gesellschaftliche Rad einschleusen muss, aus dem sie inzwischen rausfällt. Sie muss ihre Töchter verheiraten. Doch Elvira ist hässlich und Alma hat noch nicht ihre Periode.
“Heute ist zum Glück alles besser” könnte man da denken. Ja, Frauen sind selbstständiger und können ihr eigenes Leben gestalten. Abhängig sind sie aber noch immer. Frauen werden bis heute von patriarchalen Strukturen eingeschränkt. Der Film hält uns hier also den Spiegel vor: Er ist nicht bloß ein Verweis auf historische Begebenheiten. Er zeigt auch: Wir sind heute noch lange nicht so weit, wie wir das denken.
Aufstieg durch Schönheit
Und woran könnte sich diese Rückständigkeit besser zeigen als an dem Merkmal, das Frauen wie kein anderes mitbringen sollen: Schönheit.
Im Märchen gelingt nicht nur Aschenputtel der Aufstieg durch Schönheit. Auch die meisten anderen weiblichen Märchenfiguren sind vor allem durch eine Eigenschaft gekennzeichnet: Schönheit. Jetzt lassen sich Märchen natürlich auf vielfältige Weise lesen und Schönheit im Märchen meint nicht bloß die äußere Schönheit, sondern steht oft stellvertretend für die Schönheit des Charakters. Es ist aber auch nicht so, dass sie gar keine Rolle spielt und letztlich auch hier wieder ein Verweis auf die gesellschaftliche Realität ist. Schöne Frauen hatten es einfach leichter, einen Mann zu finden und damit sozial abgesichert zu sein. Und noch heute gibt es das Pretty Privilege. Schöne Menschen haben es in vielen Bereichen des Lebens deutlich einfacher.
The Ugly Stepsister: Wenn Schönheit zur Qual wird
Das muss auch Elvira schmerzhaft lernen. Es geht nie um ihre Leistung oder ihr Talent. Was sie kann oder wer sie ist, wird nie gesehen, einfach weil sie als hässlich gilt und im Schatten ihrer schönen Stiefschwester Agnes steht.
Da Elvira aber von Beginn an von dem Wunsch getrieben ist, den Prinzen zu heiraten, nimmt sie dafür einiges auf sich: Nasenkorrektur, Wimpernverlängerung und eine zweifelhafte Diät. Ihre einfache Logik: Wenn du schön bist, bekommst du den Prinzen. Dieser fatale Irrglaube wird nur von einer einzigen Person hinterfragt. Nicht von Elvira, deren unvorstellbare Schmerzen wir durch das intensive Schauspiel von Lea Myren beinahe spüren können. Nicht von der Mutter, die selbst so im System gefangen ist, dass sie bloß noch als Marionette agiert, die Männern durch sexuelle Gefälligkeiten zur Verfügung steht. Nicht durch Agnes, die Elviras Leiden durchaus erkennt, aber durch die gesellschaftlich aufgezwungene Konkurrenz mit ihr keinen Zugang zu ihr hat. Nur Alma, Elviras jüngere Schwester, ist von Elviras Vorgehen angewidert. “Du bist ja noch ein Kind”, meint Elvira dazu nur und offenbart damit die große Tragik von Frauen in diesem Film. Alma hat ihre Periode noch nicht, ist für den Heiratsmarkt also noch uninteressant. Dadurch lastet nicht nur das ganze Glück der Familie auf Elvira. Es zeigt auch, wie der Blick auf Mädchen sich verändert, sobald sie zur Frau werden und welche Qualen sie auf sich nehmen müssen, um überhaupt gesehen zu werden.
Es reicht nicht, dass durch die Menstruation ja ohnehin schon ein Vorgang körperlicher Veränderungen in Gang gesetzt wird. Es wird auch noch künstlich nachgeholfen, wenn man nicht der Norm entspricht. Und mehr als “nicht der Norm entsprechen” ist es übrigens nicht, denn Elvira ist alles andere als hässlich. Sie ist eben nur nicht Agnes.
Und der Prinz?
Ob das Leiden die Mühe wert ist? Der Film hat hier eine eindeutige Antwort: Der Prinz ist kein Märchenprinz, sondern ein selbstverliebter Lüstling, der sich mit seinen zwei infantilen Kumpanen die Zeit damit vertreibt, durch die Gegend zu vögeln und anzügliche Witze zu machen. Für die drei Männer gibt es kein anderes Gesprächsthema, immer geht es nur um Sex. Frauen sind für sie Objekte, an denen sie ihre Lust ausleben können.
Das wird bereits in der ersten Szene deutlich, in der die drei ihren Auftritt haben. Diese Szene ist eindeutig eine Anspielung auf Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, sogar Pfeil und Bogen kommen darin vor. Der Aschenbrödel-Prinz ist ebenfalls mit seinen zwei Kumpeln unterwegs, um der starren Etikette zu entfliehen. Ist das im Klassiker charmant und unterhaltsam, sind die drei Herren in The Ugly Stepsister einfach nur abstoßend und widerlich. Doch Agnes erkennt nicht, dass ihr Auserwählter alles andere als ein Traumprinz ist und dass es ihr wahrscheinlich besser gehen würde, wenn er sie nicht auswählen würde.
Die Zerbrechlichkeit von Schönheit
Stattdessen lässt sie sich von ihrer Mutter wie ein Hündchen dem Prinzen vorführen und ihre Verwandlung scheint zunächst funktioniert zu haben: Der Prinz findet sie tatsächlich wunderschön. Er ahnt ja nicht, was unter ihrer Maskierung steckt.
Im Moment ihres größten Triumphes, in dem Moment, in dem sich ihr Lebensziel zu erfüllen scheint, muss Agnes erkennen: Schönheit ist vergänglich. Ihr Traum zerbricht in dem Moment, in dem Agnes, zum Aschenputtel degradiert, den Ball betritt. Ihr Auftritt vereint beide bekannten Aschenputtelfiguren: Ihr blondes Haar und das blaue, ausladende Kleid entsprechen der Disney-Fassung, der Schleier vorm Gesicht ist aus der Aschenbrödel-Version entlehnt.
Anspielungen und Zitate
Überhaupt finden sich in dem Film zahlreiche Anspielungen und Zitate aus den beiden großen Aschenputtel-Verfilmungen. Die Kürbiskutsche entspricht dem Disney-Film, wenn Aschenputtel-Agnes am Kamin ein Mäuschen füttert, spielt das ebenfalls auf die Disney-Version an. Wenn sie ihre Arbeit verrichtet, darf sie die berühmte Aschenbrödel-Titelmelodie summen. Und wenn gegen Ende Elvira in ihrer Vorstellung vom Prinzen die Treppen hinunter getragen wird, sieht das nicht nur wie im Aschenbrödel-Finale aus. Es gibt sogar den Küchenjungen, der seine Mütze in die Luft wirft und statt “Unser Aschenbrödel” “Elvira” ruft. Und das alles, um uns zu zeigen: Das ist nur die oberflächliche Geschichte. Die Wahrheit, die darin liegt, geht viel tiefer.
Schon die Märchenfilm-Optik ist nur Fassade, märchenhaft ist an diesem Film nichts. Agnes’ Kleid ist von den Maden zusammengenäht, die den faulenden Leichnam ihres Vaters zersetzen, denn statt ihn zu beerdigen, investiert die Stiefmutter das Geld in Elviras brutale Generalüberholung. Sie will den Prinzen lediglich heiraten, weil sie finanziell keine andere Wahl hat, eigentlich liebt sie jemand anderen, der aber keine angesehene soziale Stellung einnimmt. Wegen dieser Liebe wird sie von ihrer Stiefmutter zum Aschenputtel gemacht, von einer Frau, die mit jedem Mann ins Bett geht.
Der Zwang des Patriachats
Weder Agnes noch Elvira können selbstbestimmt handeln. Sie können nicht sein, wer sie wollen und wenn sie es versuchen, werden sie bestraft. Nicht allein deswegen könnten sie sich eigentlich verstehen. Es gibt Momente, in denen sie sich anfreunden könnten, etwa wenn Elvira der trauernden Agnes Schokolade bringt, wenn Agnes der hungernden Stiefschwester Kuchen gibt oder sie später sogar in der Badewanne füttert. Aber die Welt, in der sie leben, zwingt ihnen eine Konkurrenz auf. Statt sich gegenseitig zu unterstützen, rivalisieren sie um einen Mann, den eigentlich niemand freiwillig haben möchte (und der dadurch ebenso nur auf seinen gesellschaftlichen Status reduziert wird).
The Ugly Stepsister: Intensiver Body Horror
Der Body Horror kommt nicht schleichend. Schon die erste Schönheitsbehandlung ist brutal, genau wie der Druck, der auf Elvira lastet. Ihr Streben nach Schönheit ist nicht bloß von außen aufgezwungen, sondern ist bereits von Beginn an in ihren unrealistischen, ja märchenhaften Vorstellungen angelegt. Sie will das Happy End ihres Märchens erzwingen, mal allein, mal mit der Unterstützung ihrer sprunghaften Mutter, die oft aber viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um sich konsequent mit ihrer Tochter zu beschäftigen.
Und so gipfelt dann alles in der Szene, in der sich Elvira ihre Zehen abhackt. Schönheitswahn und problematische Geschlechterrollen entladen sich in Selbstverstümmelung. Es ist nicht nur die krasseste Szene des Films, sondern auch die zentrale Stelle im Märchen, wie uns bewusst wird.
Der Höhepunkt des Films
Es ist nicht der Prinz, der Aschenputtel den Schuh überstreift und sie mit aufs Schloss nimmt. Das verkommt auch im Film nur noch zur Randnotiz. Es geht vielmehr darum, dass hier ein gerade einmal 18-Jähriges Mädchen seinen eigenen Körper quält und verstümmelt, ohne dass es jemanden interessiert. Mehr noch: Mutter, Ärzte, Erzieherinnen, sie alle unterstützen Elvira darin, sich dahin zu quälen, wo die Welt sie haben will.
Die Folge davon erkennen wir als Zuschauer*innen in den blutigen Füßen, den zersplitterten Knochen und Zehen, die noch halb am Ballen hängen.
The Ugly Stepsister ist eine Hommage an Märchen
Ja, der Film ist nichts für schwache Nerven. Einige Szenen haben es wirklich in sich. Das liegt nicht allein an der Art der Darstellung. Es liegt auch an dem, was dahintersteckt und das ist auch als eine wunderbare Hommage an die Textsorte Märchen zu lesen.
Grausamkeit spielt im Märchen eine zentrale Rolle, aber nicht als Effekthascherei. Grausamkeit im Märchen hat immer eine Funktion. Das ist auch in diesem Film so. Es geht nicht allein darum, Schockmomente zu kreieren. Es dient dazu, den Fokus auf das zu legen, worum es in dem Aschenputtel-Märchen wirklich geht: Um Schönheitswahn, Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Druck.
Der weibliche Körper als Dauerbaustelle
The Ugly Stepsister führt mit enormer Intensität vor Augen, wie der weibliche Körper zur Dauerbaustelle erklärt wird, wie das Ich dekonstruiert wird, wie die Frau zum Objekt wird, das nach gesellschaftlichen, männlichen Vorstellungen geformt werden muss. Der Perspektivwechsel auf Elvira zeigt, welchen Preis insbesondere Frauen dafür zahlen, in der Welt gesehen zu werden. Und dass das alles sich vor einer klassischen Märchenfilmkulisse abspielt verdeutlicht, wie sehr diese veralteten Erwartungen an Frauen beschönigt werden.
Emilie Blichfeldt entromantisiert unser Aschenbrödel-Disney-Bild, indem sie die klassische Optik eines Märchenfilms bis zum Schluss beibehält. Selbst das Standbild am Ende ist typisch für Märchenfilme der 60er und 70er Jahre. Gleichzeitig stellt sie ihm drastische Body-Horror-Sequenzen gegenüber. Sie spielt auf Aschenbrödel und Walt Disney an, führt die im kollektiven Gedächtnis verankerten Vorstellungen aber ins Groteske.
So arbeiten auch Musik und Setdesign. Die Musik ist mal klassisch wie in einem Märchenfilm, wird dann aber von dröhnenden Synthesizer-Klängen durchbrochen. Die Ausstattung ist märchenhaft-opulent, jedem Gegenstand haften aber Verfall und Düsternis an.
The Ugly Stepsister: Endlich ein gelungener Märchenhorrorfilm
The Ugly Stepsister ist ein Film, der unangenehm ist, sich aber enger an die Vorlage hält, als viele Kritiken es ihm zugestehen. Denn The Ugly Stepsister erfindet das Märchen nicht neu. Es ändert das Aschenputtel-Märchen auch nicht komplett. Es ändert die in uns durch Disney und Aschenbrödel verankerten Vorstellungen von dem Märchen. Tatsächlich nähert sich der Film dem Märchen sogar an und zwar nicht nur der Grimm-Fassung, sondern auch den viel älteren Versionen. Er fokussiert sich lediglich auf einen anderen Aspekt. Das Grundthema ist in dem Märchen bereits angelegt, es wird hier nur konsequent auserzählt.
Dadurch entsteht nicht nur ein sehenswerter und gesellschaftskritischer Body-Horrorfilm, sondern auch endlich mal eine gelungene Märchenverfilmung, die Märchen als Genre und Textsorte verstanden hat. Eine Verfilmung, die auch das Ausgangswerk begreift und die nicht darauf setzt, alles möglichst familientauglich zu machen, sondern dem Kern des Märchens treu bleibt und zeigt, dass Märchen unterschiedliche Interpretationen zulassen. Das Bild von Märchen ist oft genauso falsch wie das Frauenbild: Es wird romantisiert und verkommt so zur netten Kindergeschichte. Märchen aber sind keine netten Kindergeschichten. Märchen sind The Ugly Stepsister.
Podcast-Tipp: Noch mehr Aschenputtel
Auch in unserem Podcast Märchenpott haben wir uns ausfürhlich mit Aschenputtel beschäftigt und ihr mit Folge 31 „Von der schmutzigen Katze“ eine ganze Folge gewidmet. Darin schauen wir uns was das Märchen neben der Liebesthematik noch zu erzählen hat – tatsächlich ist es jede Menge. Denn Aschenputtel wird oft kleiner gemacht, als sie eigentlich ist. Auf ihre ganz besondere Weise ist sie nämlich eine richtige Rebellin, die mehrfach aus der ihr zugeschriebenen Rolle fällt.
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