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„Der Rattenzauber“ von Kai Meyer: Historien-Thriller mit Gänsehaut-Garantie

Der Rattenzauber Buch

Dass Sagen und Märchen viel Potenzial für spannende Geschichten bieten, zeigt der aktuelle Retelling-Hype, der bekannten Klassikern einen neuen Anstrich verleiht. Kai Meyer hat das bereits 1995 mit der Sage vom Rattenfänger von Hameln gemacht. Warum „Der Rattenzauber“ ein Buch ist, das man lesen sollte, erfahrt ihr hier.

Der Rattenzauber: dem Trend voraus

Märchen-Retellings sind gerade ja ziemlich angesagt, aber keineswegs eine komplett neue Erfindung der BookTok-Ära. Es lohnt sich, auch mal das ein oder andere ältere Buch zur Hand zu nehmen, etwa “Der Rattenzauber” von Kai Meyer aus dem Jahr 1995. Denn damit hat Kai Meyer einen Roman geschrieben, der zeigt, wie die literarische Neuinterpretation einer Sage das schaurige Potenzial dieser Geschichten ausschöpfen kann.

Die Sage vom Rattenfänger: bis heute faszinierend

Sagen sind natürlich nicht gleichzusetzen mit Märchen, wir reden hier von unterschiedlichen epischen Textsorten. Sie bieten aber nicht weniger Potenzial für Retellings. Die Sage vom Rattenfänger von Hameln, der um seinen Lohn geprellt wurde und daraufhin mit seinem Flötenspiel 130 Kinder aus der Stadt entführte, bringt sowieso schon jede Menge Zutaten für eine gute Geschichte mit: eine ungewöhnliche Hauptfigur, ein bis heute ungelöstes Rätsel und einen gewissen Gruselfaktor.

Der Rattenfänger ist ein Mysterium, das bis heute fasziniert. Es ist eine der bekanntesten deutschen Sagen und wurde in 30 Sprachen übersetzt. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als eine Milliarde Menschen die Rattenfänger-Sage kennen, besonders in Japan und den USA ist sie äußerst beliebt und gehört dort sogar zum Unterrichtsstoff in der Schule.

Wie viel Wahrheit steckt in der Sage?

Irgendwas muss also sowieso schon dran sein an dieser Sage. Und das ist neben ihrem originellen und gleichzeitig unheimlichen Inhalt vor allem ihr historischer Hintergrund. Denn den hat die Sage tatsächlich, allerdings ist er noch viel mysteriöser als das Rätsel um die verschwundenen Kinder.

Denn wie viel Wahrheit in der Sage steckt, ist bis heute unklar. Die Forschung geht davon aus, dass in der Sage vom Rattenfänger zwei Sagen zusammenlaufen: Die Kinderauszugssage und die Rattenvertreibungssage. Sie sollen Ende des 16. Jahrhunderts miteinander verknüpft worden sein.

Die Kinderauszugssage

Die Kinderauszugssage bezieht sich darauf, dass in Hameln wohl einst tatsächlich Kinder verschwunden sind. Spuren dafür sind bis heute in der Stadt zu finden. Sie liefern Indizien dafür, dass am 26. Juni 1284 möglicherweise wirklich 130 Kinder aus Hameln verschwunden sind. So steht etwa auf einem alten Torstein auf Latein gemeißelt: 1556, nachdem vor  272 Jahren der Zauberer 130 Kindlein von der Stadt entführt hat, ist das Tor gegründet worden. 

Ferner findet sich an einer Wand im Museum ein altes Kirchenfenster. Es ist die Nachbildung eines Fensters, das als verschollen gilt und im Original aus dem Jahr 1300 stammt. 1650 wurde das Fenster mit Hilfe von Augenzeugenberichten nachgebildet. Darauf sind der Rattenfänger und die verschwundenen Kinder zu sehen.

Zahlreiche Theorien

Um das Verschwinden der Kinder ranken sich allerdings zahlreiche Theorien und Geschichten. So gibt es die Theorie, dass es sich bei den Kindern von Hameln gar nicht um richtige Kinder gehandelt habe, sondern um auswanderungswillige Bürger*innen, die im 13. Jahrhundert zur Siedlung in den Ostgebieten angeworben wurden. Die Kinder von Hameln sind demnach nichts anderes als die Einwohner*innen der Stadt und der Rattenfänger der Mann, der diese Siedler*innen mit dem Versprechen auf ein besseres Leben angeworben hat.

➸ Podcast-Tipp

Darüber hinaus ranken sich noch zahlreiche weitere Theorien um das mysteriöse Verschwinden der Kinder. Wenn euch das interessiert, hört doch in Folge 88 unseres Podcasts rein. In der Folge “Von Goethe, Sailor Moon und dem Slenderman” beschäftigen wir uns ausführlich mit der Rattenfänger-Sage und stellen euch einige ebenso gruselige wie absurde Theorien vor.

Und auch die komplette Sage könnt ihr euch hier anhören: Der Rattenfänger von Hameln (Folge 87)

Die Rattenvertreibungssage

Auch die Rattenvertreibungssage, die in die Geschichte vom Rattenfänger eingeflossen sein soll, ist vage. In den mittelalterlichen Ratsbüchern der Stadt Hameln ist zum Beispiel nirgends nachweisbar, dass die Stadt einem Rattenfänger Lohn versprochen oder ausgezahlt hätte.

Was aber wahr ist: Es gab in Hameln eine besonders bedrohliche Rattenplage, die mehr oder minder erfolgreich durch professionelle „Rattenfänger“ bekämpft wurde. Alles darüber hinaus bleibt bis heute rätselhaft und regt die Fantasie an – und genau das macht den Reiz dieser Sage aus.

Der Rattenzauber: Hexenwahn, Ketzerei und Aberglaube

Kai Meyer, bekannt für Romane wie “Die Seiten der Welt” oder die Arkadien-Reihe, setzt in einem seiner früheren Werke genau bei diesem bis heute ungeklärten Mysterium an und entwickelt seine eigene Version über das Verschwinden der Kinder: Ritter Robert wird von seinem Herrn nach Hameln geschickt, um zu klären, wohin die besagten 130 Kinder verschwunden sind. Robert selbst plagen allerdings düstere Erinnerungen an seine Kindheit in Hameln und auch die Dorfbewohner*innen sind nicht gerade kooperativ. Hinzu kommen unheimliche Ereignisse, die Robert immer mehr in einen Sog aus Täuschung und Illusion ziehen.

In Meyers stilisiertem Mittelalter treffen mehrere Themen aufeinander, die sich schon in der Eröffnungssequenz hochexplosiv entladen. Neben dem Rätsel um die verschwundenen Kinder sind das religiöser Wahn und Hexenglaube, die Ablehnung alles Fremden, Ketzerei, Mysterienspiel und Aberglaube. Und all dem heftet eine düstere, unheimliche Atmosphäre an.

Bildhaft, atmosphärisch und schaurig

Meyer schafft es durch seinen bildhaften Sprachstil, diese packende Atmosphäre von der ersten Seite an aufzubauen und über das gesamte Buch hinweg aufrechtzuerhalten. Nicht alles dabei ist neu, nicht alles historisch korrekt, aber das muss es auch nicht sein, denn “Der Rattenzauber” ist in erster Linie ein historischer Schauerroman, der unterhalten will. Und das gelingt ihm. Auf jeder Seite schwingt ein gewisser Grusel mit, der in den Bann zieht und uns Leser*innen, wie auch den Protagonisten, immer tiefer in das Geheimnis von Hameln zieht. Wie Robert wollen wir wissen: Was ist da los?

Dass die Suche nach der Wahrheit spannender ist als des Rätsels Lösung selbst, ist ein Phänomen, das man aus vielen Büchern kennt, in diesem Fall aber verzeihbar ist, eben weil sie so wirkungsvoll aufgebaut ist. Besser ein solides Ende als eines, das zwanghaft versucht zu schockieren oder mit haarsträubenden Wendungen die gesamte Geschichte zerstört.

Der Rattenzauber: ein gelungenes Retelling

Und so steht am Ende ein historischer Schauerroman mit Thrillerelementen, der erzählerisch dicht und geschickt erzählt ist und noch einen weiteren großen Pluspunkt hat: Er driftet nie ins Fantastische ab. Fantasy-Elemente werden nur sparsam eingesetzt und runden so die mysteriöse und düstere Grundstimmung ab.

Meyers Neuinterpretation der Rattenfänger-Sage ist spannend, fantasievoll und zollt dem Mysterium dieser alten Geschichte Tribut. Ein gelungenes Retelling aus einer Zeit, in der Mystery-Thriller in Deutschland noch selten waren, an dem sich viele andere, die auf den aktuellen Retelling-Hype aufspringen, aber auf jeden Fall ein Beispiel nehmen können.